Darifenacin

Darifenacin (Emselex®) ist ein neues Anticholinergikum, das bei Reizblase empfohlen wird.

Chemie/Pharmakologie

Anticholinergika hemmen muskarinische Rezeptoren, von denen fünf verschiedene Typen bekannt sind (M1 bis M5), die sich im Gehirn und anderen Organen verteilen. Darifenacin hemmt selektiv den M3-Typ, der reichlich in glatten Muskelzellen und in Speicheldrüsen vorkommt und als wichtigster muskarinischer Rezeptor zur Steuerung der Harnblasenkontraktion dient. Bisher verwendete Anticholinergika sind weniger spezifisch, da sie stärker auch andere muskarinische Rezeptoren beeinflussen.(1,2)

Mit dem Begriff der Reizblase bzw. der hyperaktiven Blase wird ein Syndrom beschrieben, bei dem Dranggefühl (mit oder ohne Inkontinenz), Pollakisurie oder Nykturie vorherrschen und keine erkennbare Ursache wie zum Beispiel ein Infekt vorhaden ist. Häufig liegt eine verstärkte Detrusoraktivität zugrunde, dadurch gekennzeichnet, dass während der Blasenfüllung unwillkürliche Kontraktionen auftreten. Unter Darifenacin lässt sich zystometrisch eine Verminderung der Detrusorkontraktionen und eine Zunahme der Blasenkapazität nachweisen.

Pharmakokinetik

Nach Einnahme von Darifenacin – das nur als Retardpräparat angeboten wird – dauert es rund 7 Stunden, bis maximale Plas-maspiegel erreicht sind. Die biologische Verfügbarkeit liegt zwischen 15 und 20%. Darifenacin wird in der Darmwand und in der Leber durch die Zytochrome CYP3A4 und CYP2D6 abgebaut. Die Metaboliten, die nicht nennenswert zur pharmakologischen Aktivität beitragen, werden mit dem Urin und Stuhl ausgeschieden. Eine Erhöhung der Dosis führt zu einem überproportionalen Anstieg der Plasmakonzentration (nichtlineare Kinetik), wahrscheinlich weil die abbauenden Enzyme eine Sättigungsgrenze kennen. Unter chronischer Verabre-chung beträgt die Halbwertszeit etwa 13 bis 19 Stunden. Bei einer Leberfunktionsstörung ist je nach Ausmass ein Anstieg der Plasmakonzentration zu erwarten; dasselbe gilt bei verminderter CYP2D6-Aktivität («poor metabolizers»).(2)

Klinische Studien

Die wichtigsten klinischen Daten stammen von vier grossen, 12 Wochen dauernden Doppelblindstudien, in denen Darifenacin mehrheitlich mit Placebo verglichen wurde. Sie befassten sich mit Personen, die seit mindestens 6 Monaten unter einer Reizblase litten; der Altersdurchschnitt lag bei 53 bis 65 Jahren; rund 85% der Behandelten waren Frauen. Ausschlusskriterien waren unter anderem Zeichen einer Stressinkontinenz oder einer obstruktiven Blasenentleerungsstörung mit Restharnbildung. Darifenacin wurde jeweils in retardierter Form einmal pro Tag verabreicht.

Bei einer dieser Studien handelt es sich um eine placebokontrollierte Dosisfindungsstudie mit 561 Personen. Alle drei geprüften Darifenacin-Dosen (3,75, 7,5 und 15 mg täglich) halfen gegen Reizblasenbeschwerden besser als Placebo, signifikante Unterschiede ergaben sich aber nur mit den beiden höheren Dosen.(3) In einer anderen Studie erhielten 435 Personen Placebo oder eine von drei Darifenacin-Dosen (7,5, 15 oder 30 mg täglich). Als primärer Endpunkt war die Anzahl der Inkontinenzepisoden pro Woche definiert (Medianwerte); sie liess sich unter Placebo im Verlauf von 12 Wochen von 16 auf 10 senken, unter der niedrigsten Darifenacin-Dosis von 14 auf 6, unter der mittleren von 17 auf 7 und unter der höchsten von 19 auf 8. Ausgeprägte, einen Einlagen- oder Kleiderwechsel erfordernde Inkontinenzepisoden wurden bei Darifenacin-Behandelten ebenfalls signifikant mehr reduziert als in der Placebogruppe. Es wurden auch mehrere sekundäre Endpunkte bestimmt, dar-unter die Miktionsfrequenz (Abnahme um 11% unter Placebo, um 17 bis 21% unter Darifenacin), das Auftreten von Dranggefühlen (Abnahme um 15% unter Placebo, um 21 bis 36% unter Darifenacin) sowie nächtliches Aufwachen, das durch die Reizblase bedingt war (Abnahme um 4% unter Placebo, um 15 bis 16% unter Darifenacin).(4)

Ähnliche Resultate ergaben sich in einer weiteren, 395 Personen zählenden Studie (5) sowie in einer gepoolten Analyse von drei der vier Hauptstudien, in der man alle Personen zusammengefasst hatte, die mit Placebo bzw. mit den beiden niedrigeren Darifenacin-Dosen von 7,5 und 15 mg behandelt worden waren.(6)

Vergleiche zwischen Darifenacin und anderen Substanzen sind erst in geringem Umfang durchgeführt worden. So umfasste eine der Hauptstudien auch einen Behandlungsarm, in dem nichtretardiertes Tolterodin eingesetzt wurde (2-mal 2 mg pro Tag; in der Schweiz nur noch als Retardpräparat erhältlich = Detrositol® SR). Dabei erwies sich die höhere Darifenacin-Dosis von 30 mg gegenüber Tolterodin zum Teil als signifikant überlegen; da Tolterodin nicht signifikant wirksamer war als Placebo, ist allerdings eine Unterdosierung zu vermuten.(2) In einer placebokontrollierten Crossover-Studie (n=58) halfen Darifenacin und Oxybutynin (Ditropan®, 3-mal 5 mg/Tag) gegen die Reizblasenbeschwerden ungefähr gleich gut.(7) Es haben auch zwei länger dauernde Studien stattgefunden, in denen Darifenacin, wie in der Übersicht der europäischen Arzneimittelbehörde EMEA kurz erwähnt ist, während 40 bzw. während 52 Wochen mit gleichbleibender Wirkung eingenommen wurde.(2)

Unerwünschte Wirkungen

Je nach Dosis klagen 20 bis 35% der Darifenacin-Behandelten über Mundtrockenheit, 15 bis 21% über Obstipation und 3 bis 8% über Dyspepsie. (Gemäss bisherigen Daten verursacht Da-rifenacin etwas weniger Mundtrockenheit, jedoch etwas häufiger Obstipation als Konkurrenzprodukte.)(1,2) Auch Kopfweh, Übelkeit, Bauchschmerzen, trockene Augen und Sehstörungen können vorkommen. Andere anticholinerge Nebenwirkungen wie kardiovaskuläre Probleme, kognitive Störungen oder akutes Harnverhalten sind in den klinischen Studien nicht häufiger aufgetreten als unter Placebo, sind aber dennoch als Risiken aufzufassen, mit denen bei einer Darifenacin-Behandlung zu rechnen ist.

Interaktionen

CYP3A4-Hemmer (darunter auch Grapefruitsaft) und CYP2D6-Hemmer können unter Umständen zu einem merklichen Anstieg der Darifenacin-Spiegel führen. Bei potenten CYP3A4-Inhibitoren wie Ketoconazol (Nizoral® u.a.), Itraco-nazol (Sporanox®) oder gewissen Proteasehemmern ist der Effekt so ausgeprägt, dass sie nicht zusammen mit Darifenacin verabreicht werden sollen. Auch die Kombination von Darifenacin mit starken Hemmern des P-Glykoproteins (Ciclosporin = Sandimmun® u.a., Verapamil = Isoptin® u.a.) wird als kontraindiziert bezeichnet. Zytochrominduktoren können die Darifenacin-Clearance beschleunigen. Darifenacin selbst hat eine leichte bis mittelgradige Hemmwirkung auf CYP2D6 und CYP3A4, was vor allem zu bedenken ist, wenn es mit Medikamenten kombiniert wird, die über diese Zytochrome abgebaut werden und eine schmale therapeutische Breite haben. Darifenacin kann auch zu einer leichten Erhöhung der Digoxin-Spiegel führen (möglicherweise P-Glykoprotein-vermittelte Interaktion). An die Möglichkeit einer pharmakodynamischen Interaktion ist zu denken, wenn Darifenacin mit anderen Substanzen, die anticholinerge Eigenschaften aufweisen (z.B. trizyklische Antide-pressiva), oder mit Cholinesterasehemmern verschrieben wird.

Dosierung/Verabreichung/Kosten

Darifenacin (Emselex®) wird als Retardtabletten zu 7,5 und 15 mg angeboten und ist kassenzulässig. Die 15-mg-Tabletten enthalten Gelborange (E110), das wie andere Azofarbstoffe im Verdacht steht, in seltenen Fällen Überempfindlichkeitsreaktionen auszulösen. Darifenacin wird einmal pro Tag eingenommen. Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 7,5 mg; sie kann bei Bedarf nach frühestens zwei Wochen verdoppelt werden. Wie alle Medikamente mit anticholinerger Aktivität sollte Darifenacin bei verschiedenen Krankheiten (Myasthenia gravis, Engwinkelglaukom, Prostatahyperplasie, eingeschränkter gastrointestinaler Motilität u.a.) entweder nicht oder nur mit höchster Vorsicht angewendet werden. Bei schwerer Leberinsuffizienz ist Darifenacin kontraindiziert. Im Tierversuch zeigte sich, dass Darifenacin mit vermehrten peri- und postpartalen Problemen verbunden ist und dass es in die Muttermilch ausgeschieden wird. Deshalb sollte Darifenacin in der Schwangerschaft und Stillzeit nicht eingesetzt werden. Zur Anwendung bei Kindern gibt es keine Daten.

Darifenacin kostet unabhängig von der verwendeten Dosis 84.30 Franken pro Monat, exakt gleichviel wie Tolterodin (1-mal 4 mg/Tag, Detrusitol® SR). Billiger ist eine Behandlung mit Oxybutynin (3-mal täglich 5 mg, Ditropan®; 56.10 CHF pro Monat) oder mit Trospiumchlorid (2-mal täglich 20 mg, Spasmo-Urgenin® Neo; 53.95 CHF/Monat).

Kommentar

Leiden Sie unter Reizblase?» – Mit solchen Plakaten soll nun nach Impotenz und Migräne eine weiteres Gesundheitsproblem als Volkskrankheit etabliert werden. (Lanciert wurde diese Aktion von einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt von Darifenacin herstellt und einem drohenden Umsatzrückgang wohl mit einer Mengenausweitung begegnen will.) Dass man mit dem Weg ans Publikum in die Offensive geht, findet seine Logik darin, dass selbst unter Fachleuten umstritten ist, wie hoch der Nutzen von Anticholinergika bei Reizblase einzustufen sei. Einerseits ist nämlich von einer erheblichen Placebowirkung auszugehen, andererseits bedeuten sie lediglich eine symptomatische Behandlung. Umso bedauerlicher ist es, dass man keine aussagekräftigen Studien findet, in denen Anticholinergika mit nicht-medikamentösen Massnahmen (Verhaltensänderungen, Blasen- und Beckenbodentraining) verglichen wurden, die immer noch als erste Behandlung bei Reizblase empfohlen werden.8 An diesen allgemeinen Überlegungen ändert sich auch mit Darifenacin nichts. Wenngleich es als einziges Anticholinergikum spezifisch am muskarinischen M3-Rezeptor wirkt, fehlt bislang der Nachweis, dass man sich davon einen Vorteil versprechen kann – wie es selbst in der Packungsbeilage zu Darifenacin offiziell festgehalten ist.

Standpunkte und Meinungen

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Darifenacin (12. Januar 2006)
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pharma-kritik, 27/No. 8
PK129
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