No longer a black box?
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 16
, Nummer 03, PK476
Redaktionsschluss: 14. Februar 1994 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Nach traditionellen Vorstellungen entspricht das Schicksal eines Medikamentes im Körper demjenigen einer Substanz, die in eine undurchsichtige, verschlossene Kiste («black box») hineingelangt. Allzu vieles, was mit dem Arzneimittel im Inneren der Kiste geschieht, ist scheinbar verborgen.
Es ist die Wissenschaft der Pharmakokinetik, welche zu fassen versucht, was mit dem Medikament passiert und wie die Veränderungen in der «black box» zeitlich ablaufen. Dank der Kinetik-Forschung wird allmählich klarer, wie der Körper mit den ihm zugeführten Fremdstoffen umgeht, die schwarze Kiste wird langsam transparent.
Am Beispiel von Paroxetin, das in dieser Nummer vorgestelltwird, lässt sich abschätzen, wie komplex die Vorgänge im Körper sein können.
Paroxetin wird im Magen-Darmtrakt rasch und vollständig resorbiert. Bei der ersten Leberpassage wird jedoch bereits ein grosser Teil in inaktive Metaboliten verwandelt. Dieser als «präsystemisch» bezeichnete Metabolismus hängt vorwiegend von einem oxidativen Enzym ab. Es handelt sich um das gleiche Enzym (CYP2D6, ein Isoenzym von ZytochromP450), welches auch für den Metabolismus vieler anderer Medikamente verantwortlich ist und polymorph vererbt wird.
Personen mit hoher Enyzmaktivität, sogenannte rasche Metabolisierer, eliminieren eine einzelne Paroxetin-Dosis in wenigen Stunden. Langsame Metabolisierer (etwa 10% der Bevölkerung) brauchen mehrere Tage, bis eine Paroxetindosis eliminiert ist.
Das Enzym CYP2D6 kann gesättigt werden: Bei Personen, die regelmässig Paroxetin erhalten, spielt es deshalb eine geringere Rolle und andere (nicht polymorph vererbte, nicht sättigbare) Enzyme werden wichtiger. Dies hat zur Folge, dass nach einer gewissen Zeit (im «steady state») die Unterschiede zwischen raschen und langsamen Metabolisierern geringer werden. Die nach einer Einzeldosis im Plasma nachweisbare Paroxetinkonzentration kann um das 35fache variieren -- im «steady state» beträgt der Unterschied noch etwa das 10fache.
Das weitere Schicksal von Paroxetin im Körper ist vergleichsweise einfach: Nur 1 bis 2% der Substanz werden unverändert ausgeschieden. Die Metaboliten, alle inaktiv, werden zu zwei Dritteln mit dem Urin, zu einem Drittel mit dem Stuhl aus dem Körper entfernt.
Was bedeutet dies alles für uns, wenn wir Paroxetin verschreiben? Sicher müssen wir mit grossen interindividuellen Unterschieden rechnen. Wenn auch bisher keine eindeutige Beziehung zwischen Paroxetin-Plasmaspiegeln und Wirkung nachgewiesen werden konnte, so ist zum mindesten anzunehmen, dass bei Personen verschiedener Phänotypen deutliche Unterschiede der Wirkungsdauer vorhanden sind. Dass einzelne Patienten von Paroxetin scheinbar gedämpft, andere eher angeregt werden, hat vielleicht auch mit der Kinetik des Medikamentes zu tun.
Anzufügen bleibt noch, dass sich Paroxetin in seiner Kinetik gar nicht so radikal von anderen Antidepressiva unterscheidet. So spielt der Polymorphismus von CYP2D6 auch bei trizyklischen Antidepressiva eine wichtige Rolle. Dabei ist der Effekt des polymorph vererbten Enzyms scheinbar umgekehrt: bei langsamen Metabolisierern ergibt sich mindestens initial eine geringere Wirkung als bei raschen Metabolisierern. Dies ist deshalb so, weil das Enzym in diesen Fällen zur Bildung von aktiven (und nicht von inaktiven) Metaboliten führt.
Zwei Fakten irritieren mich an der allmählich durchsichtiger werdenden «black box»: In vielen Bereichen der Medizin hat der Grad an Transparenz vergleichsweise stärker zugenommen. Biopsien, Endoskopien, Ultrachalluntersuchungen, Magnetresonanzbilder usw. tragen dazu bei, dass unsere Diagnosen immer eindeutiger werden. Wenn es dagegen um die Therapie geht, hat das Auge der Wissenschaft noch manchen blinden Fleck. So gewinnt man den Eindruck, das Forschungsinteresse an Pharmakokinetik sei nicht übertrieben gross.
Für viele Medikamente, die schon länger erhältlich sind, fehlen zuverlässige Daten zur Kinetik. Zudem sind die Zusammenhänge zwischen Kinetik und Wirkung von Medikamenten nicht selten verschwommen. Paroxetin ist längst nicht die einzige Substanz, für die bisher keine klare Korrelation zwischen Plasmaspiegeln und klinischer Wirkung etabliert werden konnte.
Die andere Tatsache, die mich beschäftigt, betrifft die Scheu der meisten Fachleute (medizinischer und pharmazeutischer Richtung) vor der Pharmakokinetik. Was mitden Medikamenten im Körper geschieht, ist oft von unmittelbarer praktischer Bedeutung.
Es sind nicht abstrakte Zahlen oder kaum verständliche Begriffe, die das Wesen der Kinetik ausmachen. Wenn wir mit den wichtigsten Aspekten der Kinetik einer Substanz vertraut sind, dann «beherrschen» wir diese Substanz viel besser. Warum einzelne Kranke kaum auf ein Arzneimittel reagieren, warum andere scheinbar überraschend viele Nebenwirkungen haben, wie die Dosis in speziellen Situationen (z.B. im Alter) angepasst werden kann, wie Dosisintervalle individualisiert werden können: alle diese Fragen sind dank «Kinetik-Wissen» einfacher zu beantworten.
Ich möchte deshalb versuchen, in den nächsten Monaten Leserinnen und Leser der pharma-kritik praxisrelevante Elemente der Pharmakokinetik in kurzen Texten näher zu bringen. Renato Galeazzi, der mehr von Kinetik versteht als ich, wird mich bei der Redaktion dieser Beiträge «Pharmakokinetik für die Praxis» aktiv unterstützen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, Bedeutung und Wandel dieser für viele zu «komplizierten» Wissenschaft in lesbarer Form zu präsentieren.
Etzel Gysling
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