Erenumab
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 40
, Nummer 7, PK1055
Redaktionsschluss: 26. November 2018
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2018.1055 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Erenumab (Aimovig®, AMG334, Erenumab-aooe) ist der erste Vertreter einer neuen Gruppe von injizierbaren Arzneimitteln, die der Prävention von Migräneanfällen dienen.
Chemie/Pharmakologie
Erenumab, ein humaner monoklonaler Antikörper, hemmt das «Calcitonin Gene-Related Peptide» (CGRP). Der Antikörper wirkt, indem er sich an die CGRP-Rezeptoren bindet. CGRP ist ein Neuropeptid, das sich an verschiedensten Stellen des Nervensystems findet, stark vasodilatierend wirkt und Schmerzsignale vermittelt.
Pharmakokinetik
Das Medikament wird subkutan injiziert. Etwa 4 bis 6 Tage nach der Injektion von 70 mg werden maximale Plasmaspiegel erreicht. Die biologische Verfügbarkeit wird auf 82% geschätzt. Die wirksame Halbwertszeit von Erenumab beträgt 28 Tage; nach einer Injektion kann das Medikament mindestens 100 Tage lang im Blut nachgewiesen werden. Bei wiederholter Verabreichung nach vier Wochen kann deshalb eine gewisse Akkumulation beobachtet werden.(1)
Klinische Studien
Erenumab ist bisher vorwiegend bei episodischer Migräne untersucht worden. Eine Migräne wird als episodisch bezeichnet, wenn die betroffene Person an höchstens 14 Tagen monatlich Kopfschmerzen hat.(2) Leidet jemand noch häufiger (an 15 oder mehr Tagen monatlich) an Kopfschmerzen, dann spricht man von chronischer Migräne – ein vergleichsweise viel selteneres Krankheitsbild. Zur episodischen Migräne liegen zurzeit die Resultate von drei Phase-3-Studien vor (siehe auch Tabelle 1):
In der STRIVE-Studie wurde Erenumab bei 955 Personen mit episodischer Migräne im Doppelblindverfahren mit Placebo verglichen. Drei ungefähr gleich grosse Gruppen wurden gebildet; für sechs Monate erhielten zwei davon eine allmonatliche Erenumab-Injektion (70 oder 140 mg), die dritte Gruppe erhielt jeweils eine Placebo-Injektion. Vor der Studie hatten die Teilnehmenden an durchschnittlich 8,3 Tagen monatlich Migräne. Rund 85% der Behandelten waren Frauen. Viele hatten schon Medikamente zur Migräneprävention angewandt; unmittelbar vor der Studie verwendeten jedoch insgesamt nur 27 ein solches Arzneimittel. Migräne-spezifische Medikamente zur Anfallsbehandlung (fast immer Triptane) wurden durchschnittlich an 3 Tagen pro Monat eingenommen. Als primärer Endpunkt galt die Veränderung der durchschnittlichen Zahl monatlicher «Migränetage» während den letzten drei Studienmonaten gegenüber dem Basiswert (vor der Studie). Erenumab erwies sich dabei als statistisch signifikant wirksamer als Placebo. Im Vergleich mit dem Placebo wurde die Zahl der «Migränetage» mit Erenumab um 1 bis 2 Tage reduziert (genauere Werte: siehe Tabelle 1). Auch die Zahl der Personen, bei denen die Zahl der monatlichen «Migränetage» um mindestens 50% abnahm, war unter Erenumab signifikant grösser. Schliesslich verbesserte sich das körperliche Wohlbefinden und die Alltagsaktivitäten (beides anhand von Skalen gemessen) ebenfalls unter dem aktiven Medikament deutlicher.(3) Die STRIVE-Studie wurde nach der Placebo-Vergleichsphase noch mit einer «aktiven Behandlungsphase» weitergeführt und mit einer Sicherheits-Beobachtungsphase abgeschlossen; die entsprechenden Resultate sind noch nicht verfügbar.
Die ARISE-Studie wurde nach einem ähnlichen Protokoll wie die STRIVE-Studie durchgeführt. Die Doppelblindphase dieser Studie dauerte aber nur 3 Monate; auch wurde nur die 70-mg-Dosis von Erenumab gegen Placebo geprüft. 577 Erwachsene mit episodischer Migräne nahmen teil. Eine vierwöchige «Basisperiode» vor der eigentlichen Studie, während der die Behandlung nicht verändert werden durfte, diente der Erfassung von Basisdaten. Diese Daten (Vorbehandlung, Zahl der «Migränetage» usw.) stimmen weitgehend mit denjenigen der STRIVE-Studie überein. Im Vergleich mit den Basisdaten reduzierte Erenumab die Zahl der «Migränetage» während des letzten Studienmonats etwa um einen Tag mehr als Placebo. Auch die übrigen Resultate sind ähnlich wie die Resultate der STRIVE-Studie.(4)
An der als LIBERTY bezeichneten Doppelblindstudie nahmen 246 Personen mit episodischer Migräne teil, die vorher erfolglos mehrere (2 bis 4) Medikamente zur Migräneprävention eingenommen hatten. Sie erhielten in zwei ungefähr gleich grossen Gruppen für drei Monate entweder Erenumab (140 mg monatlich) oder Placebo. Der primäre Endpunkt, eine mindestens 50%ige Reduktion der monatlichen «Migränetage» während des dritten Studienmonats, wurde unter Erenumab von 30%, unter Placebo aber nur von 14% der Behandelten erreicht.(5)
Die Zulassung von Erenumab beruht ausserdem auf der folgenden Phase-2-Studie: In einer Doppelblindstudie wurden 667 Personen mit chronischer Migräne behandelt. Im Verhältnis 3:2:2 erhielten die Teilnehmenden Placebo oder 70 oder 140 mg Erenumab monatlich. In dieser Studie reduzierte Erenumab die monatlichen «Migränetage» um etwa 2 Tage gegenüber Placebo, wobei sich kein Unterschied zwischen der niedrigeren und der höheren Erenumab-Dosis fand.(6)
Gemäss einer offenen Nachbeobachtung (im Anschluss an eine frühe Dosisfindungs-Studie) wird mit Erenumab (70 mg/Monat) nach einem Jahr eine noch deutlichere Senkung der Migränefrequenz erreicht.(7) Bisher liegen keine Studien vor, in denen Erenumab direkt mit anderen Medikamenten zur Migräneprävention verglichen worden wäre.
Unerwünschte Wirkungen
Gemäss den Angaben der Hersteller und den Daten der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) sind schmerzhafte oder entzündliche Reaktionen an der Injektionsstelle sowie Virusinfekte der oberen Luftwege häufig (und häufiger als mit Placebo).(8) Unter der höheren Dosis (140 mg) werden auch Obstipation, Juckreiz und Muskelkrämpfe häufig beobachtet. Bei einzelnen Personen können gegen das Medikament gerichtete Antikörper nachgewiesen werden; die therapeutische Wirkung wird aber offenbar dadurch nicht beeinträchtigt.
Theoretisch besteht das Risiko, dass die CGRP-Hemmung das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse erhöhen könnte; bis anhin liegen jedoch keine entsprechenden Hinweise vor.
Interaktionen
Es sind bisher keine Interaktionen von klinischer Bedeutung bekannt.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Erenumab (Aimovig®) ist aktuell in Form eines Fertigpens mit 70 mg erhältlich. Das Medikament ist zur präventiven Behandlung der Migräne – «sofern diese indiziert ist» – zugelassen. Empfohlen wird die subkutane Injektion von 70 mg jeden Monat; Personen, bei denen so keine genügende Wirkung erreicht wird, können auch die doppelte Dosis (zweimal 70 mg hintereinander) anwenden. Die Injektion kann durch die betroffene Person selbst oder eine Hilfsperson erfolgen. Eine Dosisanpassung bei Leber- oder Niereninsuffizienz ist nicht notwendig.
Da unerwünschte Auswirkungen nicht ausgeschlossen werden können, soll Erenumab in der Schwangerschaft und Stillzeit nicht verabreicht werden. Mangels entsprechender Daten wird auch von der Anwendung bei Kindern und Jugendlichen unter 18 sowie bei älteren Leuten (über 65) abgeraten.
Die Kosten der Behandlung sind aktuell nicht klar festgelegt. Aufgrund des Exfactory-Preises und der im Ausland verlangten Preise ist zurzeit mit 600 bis 700 Franken für eine 70-mg-Dosis zu rechnen. So käme eine Behandlung mit der höheren Dosis (140 mg/Monat) auf mehr als 14'000 Franken jährlich zu stehen. (Die Jahreskosten einer präventiven Behandlung mit einem Metoprolol-Generikum betragen nicht mehr als 160 Franken.)
Kommentar
Nach sechs Monaten Behandlung mit Erenumab ist die durchschnittliche Zahl der monatlichen «Migränetage» von 8 auf etwa 6 reduziert: ist das wirklich klinisch relevant? Gewiss: es gibt Individuen, bei denen mit dem Medikament mehr erreicht wird. Wieviele sind es aber im Praxis-Alltag? Auf diese Fragen kann nur Antwort gegeben werden, wenn Erenumab mit anderen Medikamenten, die sich zur Migräneprävention eignen, verglichen wird. Einmal mehr wird hier das groteske Defizit hinsichtlich der Praxistauglichkeit neuer Medikamente offenbar. Man könnte glauben, es ginge nur darum, möglichst rasch ein möglichst teures neues Mittel einzuführen. Bereits sind in den USA zwei weitere CGRP-Antagonisten (Fremanezumab und Galcanezumab) zugelassen worden – ob mit diesen, bisher ebenfalls nur mit Placebo verglichenen Medikamenten mehr erreicht wird als mit Erenumab, ist ganz unklar (und eher unwahrscheinlich). Schliesslich bleibt auch die Sorge, dass diese neuen Medikamente langfristig doch Probleme verursachen könnten, die bis anhin unentdeckt sind.
Literatur
- 1) Markham A. Drugs 2018; 78: 1157-61
- 2) Katsarava Z et al. Curr Pain Headache Rep 2012; 16: 86-92
- 3) Goadsby PJ et al. N Engl J Med 2017; 377: 2123-32
- 4) Dodick DW et al. Cephalalgia 2018; 38: 1026-37
- 5) Reuter U et al. Lancet 2018; online 22. Oktober
- 6) Tepper S et al. Lancet Neurol 2017: 16: 425-34
- 7) Ashina M et al. Neurology 2017; 89: 1237-43
- 8) FDA-Dokument: https://pkweb.ch/2DweVNJ
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