Säugetier-Bissverletzungen

In der französischen Zeitschrift «La Revue Prescrire» ist 2018 ein Update zur Behandlung von Bissverletzungen erschienen (1). Ein genauerer Blick auf den Text zeigt, dass seit unserem letzten pharma-kritik-Artikel aus dem Jahre 2001 auf diesem Gebiet fast keine neuen, relevanten Erkenntnisse gewonnen wurden und es noch immer kaum evidenzbasierte Empfehlungen dazu gibt (2).

Da Bissverletzungen in der Praxis häufig sind, soll der Text trotzdem als Vorlage für eine aktualisierte Zusammenfassung in 5 praxisorientierten Schritten dienen. Für weitergehende Hintergrundinformationen, beispielsweise zur Epidemiologie von Bissverletzungen oder zu mikrobiologischen Details verweise ich auf unseren früheren Text sowie auf zwei weitere, lesenswerte Übersichtsarbeiten der letzten Jahre, eine aus dem «Swiss Medical Forum», die andere aus dem «Deutschen Ärzteblatt International» (2,3,4).

1. Reinigung der Wunde

Wie soll eine Bisswunde gereinigt werden?

Bissverletzungen gelten als kontaminierte Wunden, daher ist eine frühzeitige und grosszügige Wundreinigung unerlässlich. Ob dabei die Verwendung von steriler NaCl-Lösung derjenigen von sauberem Leitungswasser überlegen ist, wird unterschiedlich beurteilt (5). Bei Tollwut-Verdacht sollte zusätzlich Seife verwendet werden.

Soll ein Antiseptikum verwendet werden?

Zur Frage, ob Antiseptika einen zusätzlichen Nutzen bieten, gibt es keine klaren Daten, ebenso wenig dazu, welcher Art von Antiseptikum der Vorzug zu geben ist.  Farblose Antiseptika (wie z.B. wässerige Chlorhexidinlösung, Hibiscrub®) haben den Vorteil, dass sie eine bessere Verlaufsbeobachtung ermöglichen; einzelne Fachleute geben aus mikrobiologischen Überlegungen einer wässerigen Jod-Povidonlösung (z.B. Betadine®) den Vorzug. An dieser Stelle soll auch daran erinnert werden, dass Octenidin-Lösungen (z.B. Octenisept®) nicht mit Druck tief ins Gewebe instilliert werden dürfen, da dies zu aseptischen Gewebsnekrosen führen kann.

Wann soll ein chirurgisches Débridement erfolgen?

Bei Vorliegen von nekrotischem Gewebe oder Fremdkörpern, welche durch Spülen nicht entfernt werden können, gehört auch ein chirurgisches Débridement zu einer adäquaten Wundreinigung, dieses soll jedoch erst nach der Beurteilung der Bisswunde erfolgen und somit im Rahmen von Schritt 2.

2. Beurteilung der Wunde & allfällige Wundversorgung

Worauf muss bei der Beurteilung der Wunde geachtet werden?

Als nächstes muss eine vollständige Anamnese (inkl. Impfstatus) erhoben, sowie die Wunde beurteilt und idealerweise auch fotografisch dokumentiert werden.

Faktoren, welche das Infektionsrisiko erhöhen (siehe Tabelle 1), müssen evaluiert und das Ausmass des Gewebsschadens sowie allfällige Begleitverletzungen (Gefässe, Knochen, Gelenke) abgeschätzt werden. Dabei ist daran zu denken, dass das Ausmass von tiefen Gewebsschäden – insbesondere bei Quetschverletzungen – regelmässig unterschätzt wird. Ebenfalls nicht übersehen werden sollten Faustschlag-Verletzungen («clenched-fist injuries»). Es handelt sich dabei um eine Menschenbiss-Verletzung über dem dritten oder vierten Metacarpophalangeal-Gelenk (entstanden im Rahmen von Schlägereien oder als sogenannter «Liebesbiss»). Da meist das Gelenk mitbetroffen ist, gehen diese sich harmlos präsentierenden Verletzungen häufig mit Komplikationen einher.

Ist eine ossäre Beteiligung möglich, soll ein Röntgenbild angefertigt werden. Handelt es sich um sehr tiefe Bisswunden mit Einbezug komplexer Strukturen, muss frühzeitig eine Hospitalisation und/oder das Beiziehen der entsprechenden Spezialdisziplinen (Handchirurgie, Gefässchirurgie, plastische Chirurgie u.a.) erwogen werden. Handelt es sich um einen Menschenbiss, dürfen auch forensische Überlegungen nicht vergessen werden.

Wann soll eine Bissverletzung genäht werden?

Das Dogma, dass Bissverletzungen in keinem Fall genäht werden sollen, ist überholt. Zur Frage, welche Bissverletzungen genäht werden sollen und welche nicht, existieren aber weder klare Empfehlungen noch evidenzbasierte Fakten. Grundsätzlich geht es dabei um den Konflikt zwischen kosmetischem Ergebnis (besser bei primärer Wundnaht) und Infektionsrisiko (geringer bei offener Wundbehandlung). Weitgehende Einigkeit besteht in der Einschätzung, dass folgende Bissverletzungen nicht genäht werden sollen:

  • älter als 24 h
  • bereits infizierte Wunde
  • Wunden an Händen und Füssen
  • Katzenbisse (ausser im Gesicht), Punktionsverletzungen
  • erhöhtes lokales oder systemisches Infektionsrisiko

Problemlos genäht werden können in der Regel oberflächliche Bissverletzungen im Gesicht sowie Hundebissverletzungen, die weniger als 6 Stunden alt sind und weder Zeichen einer Infektion noch Mitbeteiligung tiefer Strukturen aufweisen.

3 Antibiotikaprophylaxe oder -therapie?


Wann ist eine Antibiotika-Prophylaxe sinnvoll?

Bei 10-20% aller Bissverletzungen kommt es im weiteren Verlauf zu einem bakteriellen Wundinfekt; die verursachenden Keime stammen entweder aus der Mundflora des beissenden Tieres oder der Hautflora der gebissenen Person. Es handelt sich dabei meist um eine Mischflora. Bei Hundebissen manifestieren sich Infekte in der Regel innerhalb der ersten 24, bei Katzenbissen innerhalb der ersten 12 Stunden nach Biss. Ob und in welchen Fällen eine Antibiotika-Prophylaxe gerechtfertigt ist, wird sehr unterschiedlich beurteilt. In einer Meta-Analyse der «Cochrane Collaboration» aus dem Jahre 2001, seit deren Erscheinen kaum neue, relevante Daten publiziert worden sind, konnte ein Nutzen lediglich für Menschenbisse und Bissverletzungen der Hände nachgewiesen werden.(6) Bei Hundebissen, welche insgesamt ein Infektionsrisiko von 5-25% aufweisen, wird eine Antibiotika-Prophylaxe somit nur empfohlen, wenn das Infektionsrisiko a priori stark erhöht ist (stark verschmutzte Wunden, Immunsuppression, primäre Naht) (7). Bei Katzenbissen (mit einem Infektionsrisiko von 30-50%) oder Menschenbissen (Infektionsrisiko 20-25%) soll die Indikation wahrscheinlich etwas grosszügiger gestellt werden. Sind seit dem Biss bereits mindestens 48 Stunden verstrichen und es ist noch keine Infektion aufgetreten, so ist eine prophylaktische Antibiotikatherapie nicht indiziert.

Wann ist eine Antibiotika-Therapie indiziert?

Infizierte Wunden, welche eine Antibiotika-Therapie notwendig machen, sind in der Regel mindestens 24h alt und weisen die klassischen Infektzeichen (Rötung, Schwellung, Zunahme der Schmerzen, Fieber, Eiter, Lymphangitis) auf. Achtung: Bei tiefen Infektionen (Phlegmone mit Abszessbildung, Tenosynovitis, Gelenksempyem) genügt die Antibiotika-Therapie häufig nicht und es muss auch chirurgisch behandelt werden! Sehr selten (meist bei immunsupprimierten Personen) kommt es zu einer systemischen Sepsis, die am häufigsten durch den Erreger Capnocytophaga canimorsus verursacht wird.

Welches Antibiotikum soll verwendet werden? Und wie lange?

Klinische Studien, in denen die Wirksamkeit verschiedener Antibiotika bei Bissverletzungen untersucht wurde, gibt es nicht. Die Empfehlungen zur Antibiotikawahl beruhen auf «in vitro»-Beobachtungen und mikrobiologischen Überlegungen (8).

Als Antibiotikum der ersten Wahl zur Prophylaxe wird durchwegs Co-Amoxicillin (2x 1g für 3-5 Tage) empfohlen. In Bezug auf das Vorgehen bei einer Penicillin-Allergie unterscheiden sich die Empfehlungen erheblich. Vor allem aufgrund der Resistenz des häufig involvierten Keimes Pasteurella multocida gegenüber Clindamycin müssen in der Regel zwei Antibiotika kombiniert werden. In «La Revue Prescrire» werden die Kombinationen Doxycyclin/Metronidazol (nicht bei Kindern, nicht in der Schwangerschaft/Stillzeit) sowie Cotrimoxazol/Clindamycin empfohlen, währenddem in den Publikationen aus dem deutschen Sprachraum den Kombinationen Ciprofloxacin/Clindamycin und Doxycyclin/Clindamycin der Vorzug gegeben wird.

Wenn bereits eine Infektion vorliegt, soll eine gezielte und resistenzgerechte Therapie angestrebt und deshalb unbedingt ein bakteriologischer Abstrich angefertigt werden (bestehen keine Infektzeichen und sind seit dem Biss weniger als 12 h verstrichen, so ist hingegen ein Abstrich unnötig). Dabei ist eine gute Kommunikation mit dem Mikrobiologie-Labor wichtig, da Kulturmedium und technisches Vorgehen der beissenden Tierspezies angepasst werden müssen.

Wenn das Ausmass der Infektion eine orale und ambulante Therapie erlaubt, können bis zum Vorliegen der Abstrichresultate die gleichen Antibiotika wie zur Prophylaxe verwendet werden. Die Behandlungsdauer beträgt dabei mindestens 10 Tage, muss aber bei ausgedehnten Verletzungen mit Beteiligung komplexer Strukturen gelegentlich auch auf mehrere Woche ausgedehnt werden.

An andere durch Tierbisse übertragene Erkrankungen denken

Tetanus?

Der Tetanus-Impfstatus soll überprüft und gegebenenfalls eine Auffrisch-Impfung verabreicht werden. Bei ungeimpften Personen oder solchen mit einer unvollständigen Grundimmunisierung bzw. unklarem Immunstatus muss eine zusätzliche Gabe von Tetanus-Immunglobulin erfolgen.

Tollwut?

Die Schweiz gilt als frei von terrestrischer Tollwut, weshalb eine Tollwut-Übertragung hierzulande kaum vorkommt. Bei Bissen im Ausland oder durch aus dem Ausland eingeführte Tiere muss jedoch daran gedacht werden und je nach Impfstatus die entsprechenden aktiven und passiven Immunisierungen vorgenommen werden (9).

Katzenkratzkrankheit?

An diese durch das Bakterium Bartonella henselae verursachte Erkrankung muss nicht nur bei Katzenbissen gedacht werden. Sie manifestiert sich in den ersten zwei Wochen nach Biss als rote Papel an der Inokulationsstelle. Danach kommt es zu einer Lymphadenopathie des betroffenen Lymphabflussgebietes, begleitet von Allgemeinsymptomen wie Fieber, Krankheitsgefühl, Kopfschmerzen. Diese können über Monate bis Jahre persistieren, sind aber bei normalem Immunsystem meist selbstlimitierend. Disseminierte Erkrankungen sind selten und treten meist bei immunsupprimierten Personen auf.

Weitere durch Bisse übertragbare Erkrankungen?

Auch Tularämie, Rattenbissfieber, Brucellose und eine Reihe weiterer seltener oder tropischer Erreger können durch Säugetier-Bissverletzungen (häufig durch Nagetiere) übertragen werden.

Bei Menschenbissen ist auch an die Übertragung von Virushepatitiden und HIV zu denken und gegebenenfalls eine Hepatitis-B-Impfung oder eine Postexpositionsprophylaxe in Betracht zu ziehen.

Nachbehandlung

Wie sollen Bissverletzungen nachbehandelt werden?

Um Infektions-Komplikationen zu vermeiden, ist das Ruhigstellen und Hochlagern von betroffenen Händen oder Füssen vermutlich wichtiger als eine Antibiotikaprophylaxe. Engmaschige klinische Kontrollen bis zur sicheren Abheilung sind ebenfalls angebracht.

Aufgrund von französischen Gesundheitsregister-Daten, die ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe von bakteriellen Infekten unter nicht-steroidalen Antirheumatika vermuten lassen (allerdings nicht spezifisch für Bissverletzungen), empfiehlt «La Revue Prescrire» bei der Schmerztherapie von Bissverletzungen auf nicht-steroidale Entzündungshemmer zu verzichten. Diese Empfehlung findet sich allerdings lediglich in dieser Publikation (10).

Bei Hundebissen muss auch an die Meldepflicht gedacht werden, die in der Schweiz seit 2006 für Fälle, bei denen eine «erhebliche Verletzung» vorliegt, obligatorisch ist.

Standpunkte und Meinungen

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Säugetier-Bissverletzungen (16. April 2019)
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