Basisimmunisierung bei Säuglingen
- Autor(en): Alexandra Röllin
- pharma-kritik-Jahrgang 41
, Nummer 1, PK1067
Redaktionsschluss: 15. Mai 2019
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2019.1067 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Vor mehr als zwei Jahrzehnten ist die letzte Übersichtsarbeit zu Impfungen bei Kindern und Jugendlichen in dieser Zeitschrift erschienen.(1) Nachdem sich in den vergangenen Jahren lediglich punktuelle Anpassungen ergeben haben, treten mit dem neuen Impfplan 2019 grundlegende Änderungen der Empfehlungen vonseiten des Bundesamts für Gesundheit in Kraft (im Text hervorgehoben).(2) Angepasst an deren Struktur soll in einem ersten Text die Basisimmunisierung bei Säuglingen erläutert werden. Grundlage für den vorliegenden Text bilden neben dem neuen Impfplan auch diverse Dokumente der WHO.(3)
Allgemeines zu Impfungen
Schon immer stand den offiziellen Impf-Empfehlungen eine Anti-Impfbewegung gegenüber, die den Nutzen von Impfungen grundsätzlich in Frage stellt, sei es aus einer Skepsis gegenüber behördlich empfohlenen Massnahmen heraus oder aufgrund alternativer Krankheitsmodelle.(4)
Dass aus praktischen und ethischen Gründen – insbesondere bei Impfstoffen, die bereits seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfügbar sind – kaum randomisierte Studien mit klinischen Endpunkten durchgeführt werden können, macht die Sache nicht einfacher. In randomisierten Impfstudien werden häufig Surrogat-Endpunkte wie z.B. Antikörpertiter miteinander verglichen. Um die klinische Wirksamkeit zu beurteilen, muss man sich weitgehend auf epidemiologische Studien stützen, die nicht Kausalitäten belegen, sondern nur Assoziationen aufzeigen können. Auch ob Krankheiten oder Symptome, die nach einer Impfung auftreten, auf diese zurückzuführen sind oder ob sie nur dem Zufall entspringen, ist aufgrund von fehlenden Vergleichspopulationen schwierig zu definieren – ein Umstand, der bei Laien häufig zu Ängsten und Verunsicherung führt. Für die meisten auf dieser Grundlage propagierten «Impfkomplikationen» (z.B. Autismus) konnten jedoch auch in grossen Beobachtungsstudien keine Hinweise auf einen Zusammenhang gefunden werden.
Viele Krankheiten, die früher regelmässig gefährliche Epidemien mit schwerwiegenden Komplikationen verursacht haben und gegen die heute Impfungen zur Verfügung stehen, sind entweder selten geworden (z.B. Masern) oder ganz ausgerottet (z.B. Pocken).
Zwar ist nicht vollständig auszuschliessen, dass auch sozioökonomische Bedingungen und medizinischer Fortschritt (z.B. Erfindung der Antibiotika, Hygienemassnahmen) zum Rückgang dieser Krankheiten beigetragen haben; verschiedene epidemiologische Beobachtungen stützen jedoch die Annahme, dass die Impfungen einen grossen Teil des Erfolges für sich beanspruchen dürfen.(5)
Neben der in Studien nachgewiesenen klinischen Wirkung beeinflussen auch epidemiologische und sozioökonomische Gegebenheiten die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit einzelner Impfungen und somit die Impfstrategien der einzelnen Länder, was zu unterschiedlichen Impfempfehlungen führen kann. In dieser Hinsicht sind die aktuellen Neuerungen sehr zu begrüssen, da sie zu einer Vereinheitlichung der Empfehlungen führen. So wird in diversen westlichen Ländern schon seit längerem ein 2+1-Schema bei der Basisimmunisierung propagiert und Säuglinge werden routinemässig gegen Hepatitis B geimpft.
Wenn Eltern gegenüber Impfungen Skepsis an den Tag legen, dann geht es neben weltanschaulichen Fragen und Ängsten vor unerwünschten Wirkungen häufig auch darum, den Kindern die schmerzhaften Injektionen zu ersparen. In dieser Hinsicht ist zu begrüssen, dass in den letzten Jahren vermehrt untersucht wurde, wie mit einfachen Massnahmen die Schmerzen bei der Injektion vermindert werden können (siehe Tabelle 1).(6)
Eine weitere Möglichkeit der Schmerzreduktion besteht darin, die Zahl der notwendigen Injektionen durch kombinierte Impfstoffe zu vermindern. Die meisten Kombinationsimpfstoffe sind den Einzelkomponenten ebenbürtig – zumindest was die Bildung schützender Antikörper und die unerwünschten Wirkungen betrifft. Ausnahmen betreffen die Kombination von MMR mit Varizellen (leichte Erhöhung des Risikos für Fieberkrämpfe) und die leicht verminderte Immunogenität von Hib-Impfstoffen bei der gleichzeitigen Verabreichung von azellulären Pertussisimpfstoffen. Letztere scheint allerdings bezüglich klinischer Wirksamkeit kaum relevant zu sein. Auch von den Kosten her lohnt es sich, kombinierte Impfstoffe zu verwenden. Allerdings führt die breite Verwendung von Kombinationsimpfstoffen dazu, dass oligovalente Impfstoffe immer seltener erhältlich sind, was es impfkritischen Personen erschwert, selektiv zu impfen. So wurde beispielsweise die Produktion von Td-Pur® eingestellt, so dass in der Schweiz kein bivalenter Diphtherie-Tetanus-Impfstoff für Erwachsene mehr erhältlich ist.
Impfstoffe für die Basisimmunisierung bei Säuglingen
DTPa-IPV-Hib-HepB-Gruppe
Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae und Hepatitis B werden kaum kontrovers diskutiert. Da sie alle schon sehr lange auf dem Markt sind, existieren nur vereinzelte randomisierte klinische Studien zu ihrer Wirksamkeit. Aufgrund epidemiologischer Daten gelten sie jedoch als wirksam und sicher, weshalb hier die höchsten Durchimpfungsraten erreicht werden. Eine Ausnahme bildet die Pertussisimpfung – diese Impfung schützt weniger zuverlässig und langfristig, weshalb es immer wieder zu grösseren und kleineren Epidemien kommt. Die früheren ganzzelligen Pertussisimpfstoffe waren zudem auch hinsichtlich unerwünschter Wirkungen nicht unbedenklich.
Diphtherie und Tetanus
Diphtherie (D) und Tetanus (T) sind dank der konsequenten Durchimpfung der Bevölkerung in Europa äusserst selten geworden.(5,7) Die beiden Impfstoffe sind seit den 1930er Jahren kommerziell erhältlich und werden seit den 1940er Jahren zusammen mit Pertussis als kombinierter Impfstoff (DTP) angewendet. Die Immunogenität beider Impfstoffe ist sehr gut, bereits nach 2 Dosen entwickeln mehr als 90% der korrekt geimpften Kinder einen genügend hohen Antikörpertiter.(8) In einer Studie aus den 1960er Jahren konnte gezeigt werden, dass durch die Impfung von Schwangeren erfolgreich neonataler Tetanus verhindert wird.(9)
Pertussis
Obwohl die Impfung gegen Pertussis (P) fast ebenso lange angewendet wird wie jene gegen Diphtherie und Tetanus, kommt es immer wieder zu Keuchhusten-Epidemien, die hauptsächlich für Kleinkinder und Säuglinge gefährlich werden können. Besonders betroffen sind Säuglinge unter 6 Monaten, da zu diesem Zeitpunkt die empfohlene Grundimmunisierung noch nicht abgeschlossen und ein Schutz durch mütterliche Antikörper oft nicht oder nur ungenügend vorhanden ist. Aus diesem Grund sollte die Impfung so früh wie möglich erfolgen und es wird neu zusätzlich empfohlen, alle Schwangeren (möglichst im 2. Trimenon) und Kontaktpersonen von Neugeborenen (Väter, Grosseltern, Kita-Angestellte u.ä.) alle 10 Jahre gegen Pertussis zu impfen.(2,10)
Da in mehreren Ländern, in denen nur noch die azellulären Pertussisimpfstoffe (Pa) verwendet werden, eine Zunahme der Pertussis-Fälle beschrieben wurde, wird diskutiert, ob diese eine geringere Immunantwort bewirken als die älteren, ganzzelligen Impfstoffe.(11) Insbesondere beim Langzeitschutz, der für alle Pertussisimpfstoffe nicht besonders überzeugend ist, scheinen sie etwas schlechter abzuschneiden. Hinsichtlich der kurzfristigen Immunantwort sind die Daten widersprüchlich. Allerdings wird auch bei den ganzzelligen Impfstoffen mit zwei Impfdosen nur in rund 80% der Fälle ein genügender Anstieg der Antikörpertiter erreicht.(12)
Trotzdem sollten nur noch azelluläre Impfstoffe verwendet werden (in der Schweiz sind auch nur noch diese erhältlich). Zelluläre Impfstoffe verursachen viel häufiger unerwünschte Wirkungen (sowohl Lokalreaktionen als auch generalisierte Reaktionen wie Fieber, Reizbarkeit, langanhaltendes Weinen).(13) Fieberkrämpfe und die sogenannten hypoton-hyporesponsiven Episoden sind sehr selten (<1 Fall pro 1’000-2’000 geimpfte Kinder).
Poliomyelitis
Da das ursprünglich für das Jahr 2018 erhoffte Ziel einer weltweiten Eradikation leider noch nicht erreicht worden ist, bleibt das Risiko einer Poliovirus-Einschleppung weiter bestehen. Deshalb sollten weiterhin alle Kinder routinemässig gegen Polio geimpft werden. Dabei sollte nur noch der parenterale, inaktivierte Impfstoff (IPV) verwendet werden. Dieser induziert zwar eine etwas schlechtere enterale Immunantwort als der (in der Schweiz nicht mehr erhältliche) orale attenuierte Lebendimpfstoff (OPV/Sabin).(14) In Ländern, in denen schon seit Jahren kein Wildvirus mehr zirkuliert, überwiegen jedoch die Vorteile, da damit das Risiko einer impfassoziierten paralytischen Poliomyelitis vermieden wird.(15) Die humorale Immunantwort (und damit der Schutz des Individuums vor einer paralytischen Erkrankung) von IPV ist mindestens gleich gut wie diejenige von OPV; bereits nach zwei Injektionen werden in mehr als 90% der Fälle schützende Antikörper induziert. IPV wird intramuskulär verabreicht und wird in der Regel problemlos vertragen. Ausser leichten Irritationen an der Injektionsstelle sind keine unerwünschten Wirkungen beschrieben.
Haemophilus influenzae
Seit der Einführung des Impfstoffes zu Anfang der 90er Jahre sind invasive Infekte mit Haemophilus influenzae Typ b (Hib) bei Kleinkindern generell massiv zurückgegangen.(16,17) Vor Einführung der Impfung waren in entwickelten Ländern 3-5% aller gesunden Vorschulkinder Träger von Haemophilus influenzae Typ b. Bei normalem Immunsystem wird bis zum 5. Lebensjahr eine natürliche Immunität aufgebaut, die weitgehend gegen invasive Infekte schützt. Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres ist das Risiko invasiver Infekte sehr hoch. Besonders gefürchtet ist die Hib-Meningitis, die auch bei guter medizinischer Versorgung eine Letalität von rund 5% aufweist und in 20-40% langfristige neurologische Einschränkungen zur Folge hat. Doch auch Pneumonie, Epiglottitis, septische Arthritis, Perikarditis, Otitis media, Sinusitis stellen häufige invasive Komplikationen dar, gegen welche die auf gereinigten Kapselpolysacchariden basierende Impfung schützt. Da Kinder unter zwei Jahren nur eine ungenügende Immunantwort gegen Polysaccharid-Antigene entwickeln, müssen die Antigene mit einem Protein konjugiert werden. Es werden unterschiedliche Impf-Schemata propagiert; diese scheinen gleichwertig zu sein.(18) Schon mit 2 Dosen (statt 3) können rund 80% der invasiven Haemophilus-Infekte verhindert werden.(19)
20-25% der geimpften Kinder reagieren mit einer lokalen Reaktion an der Injektionsstelle (Schmerzen, Schwellung) und 2% mit Fieber. Schwerwiegende unerwünschte Wirkungen sind nicht bekannt.
Hepatitis B
Neu wird empfohlen, bereits die Säuglinge im Rahmen der Basisimmunisierung gegen Hepatitis B zu impfen, wie das in vielen Ländern bereits seit längerem gehandhabt wird. Dafür soll der hexavalente Kombinationsimpfstoff verwendet werden. Ausführliche Informationen zum Hepatitis-B-Impfstoff werden im geplanten Text zu den Impfungen bei Jugendlichen und Erwachsenen zu finden sein.
Schweizer Impfschema
In der Schweiz wird jetzt empfohlen, im Alter von 2, 4 und 12 Monaten mit dem hexavalenten DTPa-IPV-Hib-HepB-Impfstoff zu impfen.
Da es nach nur 2 Dosen zu einem frühzeitigen Abfall der Antikörpertiter (insbesondere bei Hib) kommen kann, ist die frühzeitige und pünktliche Verabreichung der ersten Auffrischimpfung mit 12 Monaten entscheidend. So werden bei unveränderter Schutzwirkung Impfdosen gespart und das Impfschema vereinfacht. Bei Kindern mit erhöhtem Risiko (Frühgeborene, bei chronischen Erkrankungen) sollte ein beschleunigtes Impfschema mit weiterhin 3+1 Injektionen zur Anwendung kommen (2, 3, 4 und 12 Monate).
MMR-Gruppe
Viel kontroverser als die Impfungen der ersten Gruppe werden die Impfungen dieser Gruppe diskutiert. Dabei steht vor allem die Masernimpfung im Kreuzfeuer der Kritik, was sehr bedauerlich ist, handelt es sich doch um eine gut wirksame und verträgliche Impfung, welche vor einer Krankheit schützt, die bedrohliche Komplikationen verursachen und zu einer postinfektiösen Immunsuppression führen kann.20 Diese Kontroverse ist zu einem grossen Teil auf einen gefälschten Artikel im Lancet aus dem Jahr 1998 zurückzuführen, 21 in dem ein Zusammenhang zwischen der Masernimpfung und Autismus postuliert wurde. In mehreren später durchgeführten epidemiologischen Studien konnte ein solcher Zusammenhang nie nachgewiesen werden. Auch die auf alternativen Krankheitsmodellen beruhende Theorie, dass Kinderkrankheiten (insbesondere die Masern) eine wichtige Rolle in der Entwicklung eines Kindes spielen sollen, führte zu einer deutlichen verminderten Akzeptanz der Masernimpfung, die bis heute anhält.(4)
Masern
Masern (Morbili) sind eine der ansteckendsten Krankheiten überhaupt. Gesunde, gut ernährte Kinder sind zwar selten vital gefährdet. Seltene Komplikationen sind Pneumonie, thrombozytopenische Purpura und Enzephalitis. Letztere wird in rund einem von 1’000 bis 2’000 Masernfällen beobachtet und kann mit bleibenden Schäden einhergehen. Noch seltener ist die letale subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE; 1 pro 10’000-100'000 Erkrankungen), die erst Monate bis Jahre nach der Masernerkrankung auftritt. Die Infektion mit dem Masern-Wildvirus führt häufig zu einer Immunsuppression, die 2-3 Jahre andauern kann.(20)
Mumps
Sowohl bei Kindern wie auch bei Erwachsenen verläuft Mumps meist harmlos. Bei erwachsenen Männern tritt bei 20% eine meist einseitige Orchitis auf, die aber nur selten zu einer kompletten Sterilität führt. In bis zu 15% der Fälle kann es zu einer Meningitis kommen, die aber nur selten bleibende Schäden hinterlässt. Bei 5 von 100'000 Erkrankten kommt es zu einer bleibenden Schädigung des Innenohres.
Röteln
Röteln (Rubella) verlaufen bei Kindern meist harmlos. Bei einer Erkrankung im ersten Schwangerschaftstrimester muss jedoch bei rund einem Viertel der Fälle mit der gefürchteten Rötelnembryopathie gerechnet werden.
Wirksamkeit und Sicherheit der MMR-Impfung
Von allen drei attenuierten Lebendimpfstoffen existieren verschiedene Impfstämme. Für Masern und Röteln induzieren sie alle eine gute Immunantwort und gelten als gleichwertig. Bis 2003 war in der Schweiz ein kombinierter Impfstoff (Triviraten®) mit dem Rubini-Mumpsstamm erhältlich. Dieser Stamm induziert keine genügende Immunantwort gegen Mumps. Personen, die nur mit Triviraten® geimpft worden sind, sollen mit einem anderen Mumps-Stamm nachgeimpft werden. Allerdings beträgt die klinische Wirksamkeit des derzeit in der Schweiz verwendeten Jeryl-Lynn-Stammes gemäss einer Cochrane-Übersicht aus dem Jahr 2012 auch nur 81 bis 88% (nach zwei Injektionen). Im Vergleich dazu wurde in derselben Arbeit für die kombinierte Masernimpfung eine Wirksamkeit von mindestens 95% errechnet.(23)
Neben harmlosen Lokalreaktionen kann es bei bis zu 15% der Geimpften zu Fieber und bei 2% zu einem Ausschlag kommen. Anaphylaktische Reaktionen kommen äusserst selten vor und sind in der Regel nicht wie meist vermutet auf Hühnereiweiss zurückzuführen. Die Masernimpfung kann zu einer vorübergehenden Thrombozytopenie führen (1:30’000-40'000). Ein Zusammenhang der MMR-Impfung mit dem Auftreten von Masern-Enzephalitis, Autismus, Asthma, Leukämie, Typ-1-Diabetes, Morbus Crohn, Heuschnupfen oder demyelinisierenden Erkrankungen konnte nie nachgewiesen werden. Nach Mumpsimpfung sind in Einzelfällen dieselben Symptome und Komplikationen beschrieben wie nach der eigentlichen Mumpserkrankung. In den ersten drei Wochen nach Impfungen, die eine Rötelnkomponente vom Stamm RA27/3 (in CH verwendet) enthalten, treten bei rund einem Viertel der erwachsenen Frauen Gelenkschmerzen auf, bei knapp der Hälfte davon kann eine Arthritis nachgewiesen werden. Kinder und Männer sind von diesem Problem kaum betroffen.
Schweizer Impfschema
Da der Mensch der einzige natürliche Wirt des Masernvirus ist, wäre eine weltweite Masernelimination theoretisch möglich. Mit dem Ziel, dies zumindest für die Schweiz und Europa zu erreichen, wird seit längerem die generelle Impfung mit zwei Dosen MMR vor dem Alter von 2 Jahren empfohlen. Die zweite Dosis gilt dabei nicht als Auffrischimpfung, sondern als Teil der Grundimmunisierung, die bei primären Impfversagern doch noch eine entsprechende Antikörperreaktion auslösen soll.(24) Neu wird empfohlen, die erste Injektion mit 9 und die zweite mit 12 Monaten zu verabreichen. Da der Schutz durch die mütterlichen Antikörper bis zum 6. Lebensmonat anhält, kann so die Lücke, in der kein Impfschutz besteht, verkleinert werden. Bei erhöhtem Risiko sowie als postexpositionelle Gabe bei Epidemien oder einem Masernfall in der Umgebung kann die erste Injektion auch schon ab dem 6. Lebensmonat verabreicht werden. Eine dauerhafte Antikörperantwort kann aber erst ab dem 9. Lebensmonat erwartet werden. Bei früherem Impfbeginn werden deshalb 3 Dosen empfohlen. Auch sind vor Ende des ersten Lebensjahres Interferenzen mit persistierenden mütterlichen Antikörpern möglich. Dasselbe Problem kann auch nach Transfusionen oder Behandlung mit Immunglobulinen auftreten, weshalb hier ein Abstand von mindestens drei Monaten empfohlen wird.
Zusätzlich sind mit dem Varizellenimpfstoff kombinierte MMR-Impfstoffe verfügbar (Priorix-Tetra®, ProQuad® ); diese scheinen ein geringgradig erhöhtes Risiko für Fieberkrämpfe mit sich zu bringen. Einzelheiten zum Varizellenimpfstoff finden sich im geplanten Folgetext zu Impfungen bei Jugendlichen und Erwachsenen.
Pneumokokken
Neu wird die Pneumokokkenimpfung mit dem 13-valenten konjugierten Impfstoff PCV13 (Prevenar 13®) nicht mehr als ergänzende Impfung, sondern als Basisimpfung bei allen Säuglingen empfohlen. Der früher verwendete Polysaccharidimpfstoff (Pneumovax-23®) sollte nicht mehr verwendet werden, da er bei Kindern unter 2 Jahren keine zuverlässige Immunreaktion auslöst. Durch die Bindung eines Proteins an die Kapsel-Polysaccharide (Konjugation) des Impfstoffes kann mit PCV13 auch bei Kindern unter 2 Jahren oder mit Immundefekten eine genügende Immunreaktion mit Langzeitschutz erzielt werden. Die Wirksamkeit gegen invasive Pneumokokkeninfekte beträgt dabei über 90%, die Wirksamkeit auf durch Pneumokokken verursachte Otitiden rund 50%. Auch die Besiedlung des Nasopharynx mit Pneumokokken wird verringert. Der Impfstoff gilt als gut verträglich; selten treten selbstlimitierende Lokalreaktionen oder Fieber auf.
Im Rahmen der Basis-Immunisierung von Säuglingen sollen drei Dosen im Alter von 2, 4 und 12 Monaten verabreicht werden. Sollen ältere Kinder nachgeimpft werden, so genügen im 2. Lebensjahr 2 Dosen und danach eine Dosis (nur bis zum Abschluss des 5. Lebensjahres sinnvoll). Bei Kindern mit einem erhöhten Risiko für invasive Pneumokkokeninfektionen werden 4 Dosen empfohlen. Bei Kindern, die eine vollständige Immunisierung mit dem früher erhältlichen 7-valenten Impfstoff erhalten haben, kann einmalig mit PCV13 nachgeimpft werden, um eine erweiterte Wirksamkeit gegen eine grössere Anzahl von Serotypen zu erreichen. Eine Nachimpfung mit dem 23-valenten Polysaccharidimpfstoff wird hingegen auch bei Kindern mit erhöhtem Risiko nicht mehr empfohlen.
Rotaviren
Seit 2007 ist in der Schweiz ein monovalenter, oraler Lebendimpfstoff gegen Rotaviren (Rotarix liquid®) erhältlich.(25)Obschon dieser nachgewiesenermassen einen guten Schutz gegen die Durchfallerreger bietet, wurde er nicht in den Schweizerischen Impfplan aufgenommen, da Rotavirusinfektionen in entwickelten Ländern kaum je bedrohliche Verläufe zeigen. Somit kann der verhältnismässig teure Impfstoff, der in den ersten 6 Lebensmonaten zweimal im Abstand von mindestens vier Wochen verabreicht werden muss, nicht als kosteneffektiv bezeichnet werden und wird auch nicht von der Grundversicherung vergütet.
Die Tabelle 1i (im Internet) vermittelt Informationen zu den aktuell in der Schweiz erhältlichen Impfstoffen.
Literatur
- 1) Staub B, de Luca A. pharma-kritik 1997; 19: 53-6
- 2) Schweizerischer Impfplan 2019: www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-leben/gesundheitsfoerderung-und-praevention/impfungen-prophylaxe/schweizerischer-impfplan.html
- 3) WHO vaccine position papers, online: goo.gl/64sQV3
- 4) Dubé E et al. Expert Rev Vaccines 2015; 14: 99-117
- 5) Collins S et al. Epidemiol Infect 2016; 144: 3343-53
- 6) Taddio A et al. CMAJ 2015; 187: 975-82
- 7) Anon. arznei-telegramm 2016; 47: 17-20
- 8) Myers MG et al. JAMA 1982; 248: 2478-80
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- 11) Gambhir M et al. PLoS 2015; 11: e1004138
- 12) Jefferson T et al. Vaccine 2003; 21: 2003-14
- 13) Zhang L et al. Cochrane Database Syst Rev 2014; 9: CD001478
- 14) Hird TR et al. PLoS 2012; 8: e1002599
- 15) Alexander LN et al. JAMA 2004; 292: 1696-701
- 16) Anon. BAG Bulletin 2013; 37: 635-9
- 17) Morris SK et al. Lancet Infect Dis 2008; 8: 435-43
- 18) Low N et al. Pediatr Infect Dis J 2013; 32: 1245-56
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- 20) Mina MJ et al. Science 2015; 348: 694-9
- 21) Wakefield AJ et al. Lancet 1998; 351: 637-41
- 22) Richard JL et al. Eur J Epidemiol 2003; 18: 569-77
- 23) Demicheli V et al. Cochrane Database Syst Rev 2012; 2: CD004407
- 24) Davidkin I et al. J Infect Dis 2008; 197: 950-6
- 25) Masche U. pharma-kritik 2008; 10: 37-8
Standpunkte und Meinungen
- Datum des Beitrags: 3. Juni 2019 (07:49:15)
- Verfasst von: Dr.med. Markus Gnädinger, Arzt (Steinach)
- Impfschmerzen
Alexandra Röllin schildert in der Tabelle 1 «Massnahmen zum Vermindern von Injektionsschmerzen» [1]. Sie bezieht sich dabei auf Übersichtsarbeiten von Anna Taddio [2, 3]. Die Tabelle gibt den Sachverhalt jedoch verkürzt wieder. Eine der empfohlenen Massnahmen ist dabei der Verzicht auf die Aspiration vor der Abgabe des Impfstoffs in den Muskel. Natürlich kann man Säuglinge nicht befragen, aus diesem Grund wurden die Schmerzen mittels eines Beobachtungsrasters in Videoaufnahmen abgeschätzt. Zwei Arbeiten verglichen dabei die herkömmliche Technik (langsamer Einstich, Aspiration, langsame Injektion, langsamer Auszug der Nadel) mit einer «pragmatischen» Technik (rascher Einstich, keine Aspiration, rasche Injektion, rascher Auszug der Nadel). In der Arbeit von Girish und Ravi war in der Interventionsgruppe das Weinen um 5 Sekunden kürzer als in der Vergleichsgruppe (32 vs. 37) [4]. In der Arbeit von Ipp et al. war das Weinen ebenfalls kürzer und die Zahl der weinenden Kinder geringer; eine visuell-analoge Skala beurteilt durch Eltern und Arzt, sowie ein Score aus Weinen, Grimassieren und Fluchtbewegungen waren ebenfalls vorteilhaft für die Interventionsgruppe [5]. Eine dritte Arbeit bei Jugendlichen konnte bei drei verschiedenen Injektionstechniken allerdings keinen Unterschied finden [6]. Untersucht wurden a) rascher Einstich, keine Aspiration, rasche Injektion, rascher Auszug, b) langsamer Einstich, keine Aspiration, langsame Injektion, langsamer Auszug und c) wie b aber mit Aspiration. Insgesamt lässt sich somit aussagen: Eine rasche Impftechnik (rascher Einstich, keine Aspiration, rasche Injektion und rascher Auszug) verursacht bei Säuglingen mit i.m.-Impfungen in den Glutäus-Muskel weniger Unwohlsein und Schmerzen als die herkömmliche langsame Technik. Es gibt keinen Hinweis, dass das Weglassen der Aspiration dabei der entscheidende Faktor war. Immerhin wandert die Nadelspitze bei unvollständiger Fixation der Spritze eventuell im Muskelgewebe umher, wodurch zusätzliche Schmerzen erklärt werden könnten. Der Hauptgrund ist aber wohl, dass in der Impfzone des Glutäusmuskels keine grösseren Gefässe vorhanden sind und dass eine versehentliche intravenöse oder gar -arterielle Injektion somit sehr unwahrscheinlich und auch nicht besonders gefährlich sind. Um mit Prof. Pietro Vernazza einen Impfexperten zu zitieren: «Stich, Injektion, raus. Der Erfolg liegt im raschen Gesamtpaket!».Literatur:1. Röllin A: Basisimmunsierung bei Säuglingen. pharma-kritik 2019, 41(1): 1-2.2. Taddio A, McMurtry CM, Shah V et al: Reducing pain during vaccine injections: clinical practice guide. CMAJ 2015, 187 (13): 975-82.3. Taddio A, Shah V, McMurtry CM et al: Procedural and physical interventions for vaccine injections. Systemic review of randomized controlled trials and quasi-randomized controlled trials. Clin J Pain 2015, 31 (10 suppl): S20-37.4. Girish GN, Ravi MD: Vaccination related pain: comparison of two injection techniques. Indian J Pediatr 2014; 81 (12): 1327-31.5. Ipp M, Taddio A, Sam J et al: Vaccine-related pain: randomised controlled trial of two injection techniques. Arch Dis Child 2007; 92: 1105-8.6. Petousis-Harris H, Poole T, Stewart J et al: An investigation of three injections techniques in reducing local injection pain with a human papillomavirus vaccine: a randomized trial. Vaccine 2013; 31: 1157-62.
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