ceterum censeo: Vom Umgang mit Unwissen

Einer unserer Söhne, der in Toronto wohnt, fragte mich zu Beginn des Monats Februar 2020, ob ich einen kurzen Text schreiben würde, der in Kanada lebenden Schweizern Informationen zu Covid-19 in der Schweiz vermitteln könnte. Bis der Text dann einen Monat später erschien, hatte ich ihn schon zweimal abgeändert – von der Aussage «in der Schweiz noch kein Fall identifiziert» bis zu «25 Fälle bekannt»! Was in den folgenden drei Monaten passiert ist, wissen wir alle zur Genüge. Diese Anekdote mag zeigen, wie hilflos wir den Problemen dieser Pandemie gegenüberstehen. Die Medien sind voll von fragwürdigen Vergleichsdaten, wohlmeinenden Empfehlungen, Hypothesen, Spekulationen und zum Teil auch offensichtlichen Fehlinformationen. Es liessen sich wohl seitenlange Listen von ungelösten Fragen zusammenstellen.

Abgesehen von den epidemiologischen Aspekten interessieren aus medizinischer Sicht natürlich in erster Linie alle Interventionen, die der Prävention und Behandlung von Covid-19 dienen könnten. Dass man im Zusammenhang mit einem so bedrohlichen und dringenden Problem nicht allen Prinzipien einer Evidenz-basierten Medizin genügen kann, leuchtet durchaus ein.

So kann es absolut sinnvoll sein, Massnahmen zu empfehlen, deren Nutzen entweder noch nicht umfassend geprüft wurde oder die überhaupt nicht im Rahmen von randomisierten Studien untersucht werden können. Deshalb können das in der Schweiz wie in vielen anderen Ländern empfohlene «social distancing», ein regelmässiges und gründliches Waschen der Hände und wahrscheinlich auch das Tragen einer Gesichtsmaske als Interventionen bezeichnet werden, die als präventiv wirksam und im Wesentlichen harmlos gelten können. (Dass auch solche Massnahmen allenfalls relevante psychische Konsequenzen haben, darf aber nicht ganz vergessen werden.) Es ist in Anbetracht des vergleichsweise geringen Evidenzgrades nicht überraschend, dass diese Empfehlungen in verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Intensität propagiert wurden. Retrospektiv ist man ja immer klüger; die Beispiele von Grossbritannien und Schweden zeigen aber, dass es vielleicht nicht so klug ist, auf «sichere» Evidenz zu warten.

Was aber nun in den letzten Wochen im Bereich der Pharmakotherapie praktiziert wurde, kann nur als Pfusch bezeichnet werden. Schon früh hatten mehrere Gruppen begonnen, ohne verlässliche Daten die Wirksamkeit der verschiedensten Therapien zu empfehlen. Die WHO hat dann im März einen international verwendbaren Studienplan veröffentlicht, in dem vier verschiedene Behandlungsoptionen mit einer «optimalen» Basistherapie verglichen werden.(1)

Aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen kam es aber dazu, dass von den vier möglichen Varianten das Antimalariamittel Hydroxychloroquin (Plaquenil® u.a.) als quasi beste Option vermutet wurde und seither in Dutzenden von kleinen, im Wesentlichen nicht aussagekräftigen Studien (und zweifellos auch ganz ausserhalb von Studien) verwendet wird. Für Chloroquin, das normalerweise in der Malariatherapie und bei Autoimmun-Krankheiten eingesetzt wird, hatte in einer in-vitro-Studie Aktivität gegen das Coronavirus gezeigt werden können. Ob aber Chloroquin oder Hydroxychloroquin bei Covid-19 einen klinischen Nutzen erbringt, ist bis anhin noch in keiner überzeugenden Studie nachgewiesen worden. Kompliziert wird die Beurteilung dieser Antimalariamittel durch die Tatsache, dass sie besonders in höheren Dosen zu einer QT-Verlängerung mit dem Risiko lebensgefährlicher Kammerarrhythmien führen können. Werden zusätzlich noch Makrolide wie Azithromycin (Zithromax® u.a.) oder Clarithromycin (Klacid® u.a.) – Medikamente, die von der WHO nicht empfohlen sind – gegeben, so wird das Arrhythmierisiko noch erhöht.(2)

Es wundert daher nicht, dass eine Analyse internationaler Daten zum Schluss gekommen ist, so behandelte Kranke hätten gegenüber anderen, die diese Therapie nicht erhielten, eine erhöhte Mortalität. Dass diese Analyse nun wegen ungeklärten Fragen zur Datenqualität unter Beschuss gekommen ist und von der Mehrheit der Autoren sogar zurückgezogen wurde,(3) ändert nichts an der Tatsache, dass die Nutzen/Risiko-Bilanz von Hydroxychloroquin zurzeit als ungünstig bezeichnet werden muss. Wer einer Patientin, einem Patienten Hydroxychloroquin verschreibt, muss sich bewusst sein, dass für diese Therapie noch kein Nutzen nachgewiesen ist, aber ein schwer einschätzbarer Schaden vermutet wird. Aber bitte: wer hat denn schon von «primum nihil nocere» gehört?

Die Covid-19-Epidemie hat dazu geführt, dass sehr viele Leute sehr viel dazu publizieren – wohl nicht zuletzt in der Hoffnung, damit bekannt oder gar berühmt zu werden. Dies darf aber im 21. Jahrhundert kein Grund sein, mit Medikamenten derart unbedarft umzugehen und mit wild verordneten Therapien zu verhindern, dass in nützlicher Frist Resultate sinnvoller Studien zur Verfügung stehen.(4)

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ceterum censeo: Vom Umgang mit Unwissen (5. Juni 2020)
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