Disease Mongering

Übersicht

«Disease Mongering» ist ein neuer, nur schwer übersetzbarer Begriff; er beschreibt das Phänomen, dass Krankheiten ins Gespräch gebracht und «verkauft» werden. In einer Publikation der «Public Library of Science» (PLoS) wurde eine Artikelserie veröffentlicht, die verschiedene Aspekte des «Disease Mongering » beleuchtet (abrufbar unter http://collections.plos.org/ plosmedicine/diseasemongering-2006.php) und im Folgenden kurz zusammengefasst wird.

Grundlagen

Markantes Beispiel für das «Disease Mongering» sind die Kampagnen von Pharmafirmen, mit denen auf Krankheiten oder Befindlichkeitsstörungen aufmerksam gemacht wird und deren Hauptziel darin liegt, den Medikamentenverkauf anzukurbeln. Einen Bedarf zu schaffen gehört zu den Strategien, um ein Medikament als Kassenschlager aufzubauen. Auch Patientenvereinigungen und Gruppen innerhalb der Ärzteschaft beteiligen sich daran – oft mit Hilfe der Massenmedien –, dass zu einem Gesundheitsproblem eine bestimmte Sicht verbreitet wird.

Angst vor Gebrechen sowie ein grosser Fortschrittsglauben bilden wichtige Grundlagen unserer ökonomischen, wissenschaftlichen und sozialen Normen. Viele Regierungen räumen der marktwirtschaftlichen Entwicklung höhere Priorität ein als Fragen der öffentlichen Gesundheit, was eine zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens bedeutet. Unsere Sichtweise von Krankheiten wird heute weit mehr von pharmazeutischen Firmen als von öffentlichen Gesundheitsinstitutionen geprägt.

Gewiss gibt es bei jeder Krankheit Individuen, die von der Publizität profitieren, weil sie unter starken Beschwerden leiden oder ihnen eine Behandlung eindeutig hilft. Doch häufig gelten die Kampagnen Gesundheitsproblemen, deren Relevanz unterschiedlich beurteilt wird, wobei die von finanziellen Motiven geleiteten Meinungen dominieren. Das «Disease Mongering» liesse sich zum Beispiel besser erfassen, wenn man bei häufigen Krankheitsbildern untersuchte, wie deren Definitionen im Laufe der Zeit verändert wurden und welche Evidenz bzw. Interessenkonflikte solchen Entscheidungen zugrunde lagen. Konsumentenorganisationen, die sich gegen das «Disease Mongering» wehren, sind «Health Action International» (www.haiweb.org) oder «Media Doctor» in Australien (www.mediadoctor.org.au). Auch das britische «Royal College of General Practitioners» hat sich gegen verschleierte Medikamentenwerbung ausgesprochen. Bei den pharmazeutischen Firmen selbst müsste von den Verantwortlichen stärker darauf geachtet werden, welche Wege die Marketingabteilungen beschreiten.(1)

Die Neudefinition der erektilen Dysfunktion

Heute werden Medikamente zunehmend für Probleme angeboten, die Ausdruck des natürlichen Alterungsprozesses sind oder der üblichen Bandbreite der menschlichen Gefühlswelt; zum Teil werden sie sogar lediglich zur «Verbesserung» irgendwelcher normaler Körperfunktionen vermarktet (sog. «Lifestyle»- Medikamente). Dies wirft die Fragen auf, ob jegliche Abweichung von der «Norm» eine Therapie rechtfertige, ob man Gesunde zur Steigerung ihres Wohlbefindens behandeln solle und wer dafür zu bezahlen habe.

Paradebeispiel eines «Lifestyle»-Medikamentes ist Sildenafil (Viagra®). Bei erektiler Dysfunktion infolge Diabetes mellitus oder Rückenmarksschädigung führt Sildenafil in 50 bis 60% der Fälle zu einem erfolgreichen Geschlechtsverkehr. Dies allein hätte nur einen mittelmässigen Erfolg erwarten lassen, weshalb sich die Herstellerfirma bemühte, Sildenafil als Therapie der Wahl bei einem grösseren Kollektiv zu etablieren. Es wurde der Eindruck geschaffen, dass es sich bei der erektilen Dysfunktion um ein weit verbreitetes, einen grossen Teil der über 40-jährigen Männer betreffendes Problem handle. Ferner wurden die Kriterien für einen Behandlungserfolg neu bzw. grosszügiger definiert, und Sildenafil wurde als wichtige Option für jeglichen Schweregrad einer erektilen Dysfunktion angepriesen.

In den USA hat der Sildenafil-Hersteller mehrere Hundert Millionen US$ für Publikumswerbung investiert. Den Vorwurf, dass auch junge Männer zum Gebrauch von Sildenafil animiert würden, weist die Firma zurück – doch dass in der Werbung auch Bilder und Figuren aus der Welt des Sportes auftauchen, spricht für sich.(2)

Hyperaktive Kinder: die Schule als Krankheitsvermittler

Die als Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichnete Krankheit hat sich zu einem als eminent betrachteten Problem bei Kindern entwickelt, mit einer entsprechenden Zunahme der Verschreibungen von Psychostimulantien wie Methylphenidat (Ritalin® u.a.). Es wird eine hitzige Debatte geführt, inwieweit es sich um eine Krankheit handelt und welchen Nutzen eine Therapie erhoffen lässt.

Wenn Störungen, die ursprünglich als nicht-medizinisch betrachtet wurden, als Krankheiten eingestuft werden, wird das neue Konzept häufig über nicht-medizinische Personen verbreitet. Bei ADHS sind Lehrer und Lehrerinnen – gemäss den diagnostischen Kriterien auch offiziell – am Diagnoseprozess beteiligt und entscheiden über eine Behandlung mit. In der Rolle von «Detektiven» können sie auf mögliche ADHS-Fälle aufmerksam machen. Nicht zuletzt zum eigenen Nutzen sind sie daran interessiert, wie man mit unruhigen Kindern oder mit Lernschwierigkeiten umgeht.

Deshalb sind Lehrer und Lehrerinnen eine Zielgruppe der Pharmafirmen, um mit als Fortbildung getarnter Werbung die medikamentöse ADHS-Behandlung zu propagieren. Auf speziellen Websites werden sie darauf hingewiesen, dass es sich um eine ernsthafte Erkrankung handle und deswegen eine Medikamentenverordnung einzuhalten sei. Ebenfalls werden von den Firmen andere Kanäle wie schulärztliche Dienste oder Publikationen von finanziell unterstützten Patientenvereinigungen eingebunden, um in der Schule Einfluss zu nehmen.

Davon abgesehen versuchen pharmazeutische Firmen ähnlich den Fast-Food-Ketten, ihr Marketing auf die Schule auszudehnen, indem sie auch allgemeines Lernmaterial anbieten.(3)

Die sexuelle Dysfunktion der Frau

Die Sexualität, lange Zeit eine Domäne der Sozialwissenschaft und der Psychologie, begann in den 1980-er Jahren in der Medizin als Thema Fuss zu fassen. Sogenannte Dysfunktionen wie Erektions- oder Ejakulationsstörungen wurden als Diagnosen anerkannt, was mit der Gründung entsprechender Fachgesellschaften, Zeitschriften und Spezialkliniken einherging. Als medizinisches Fach übernahm die Urologie, für die neue Betätigungsfelder willkommen waren, die Vorreiterrolle. Kurz nachdem Sildenafil zur Therapie der erektilen Dysfunktion eingeführt worden war, tauchte die Idee eines «rosaroten Pendants » für Frauen auf. Es wurde der Begriff der sexuellen Dysfunktion der Frau geschaffen und via industrieunterstützte Kongresse und Publikationen verbreitet. Indessen ist nach wie vor unklar, nach welchen Kriterien eine solche Dysfunktion zu definieren sei. Die Sicht der Frauen vertritt zum Beispiel die «New View Campaign» (www.fsd-alert.org), die beanstandet, dass man für die sexuelle Dysfunktion der Frau eine diagnostische Klassifikation geschaffen habe, die weder einer Evidenz folge noch weiblichen Sexualproblemen gerecht werde.

Die Diskussion um die sexuelle Dysfunktion der Frau wurde wesentlich mitgetragen von der Sildenafil-Herstellerfirma; sie liess dazu auch Studien durchführen, die allerdings keine aussagekräftigen Ergebnisse lieferten. Unterdessen wird von einer anderen Firma ein Testosteronpflaster für (ovarektomierte) Frauen zu propagieren versucht, wobei nun die sexuelle Dysfunktion nicht mehr als «Erregungsstörung», sondern als «Mangel an sexuellem Verlangen» gehandelt wird.(4)

Die Vermarktung der bipolaren Störung

In einer amerikanischen Fernsehwerbung wurde geschildert, wie sich das Leben einer Frau verändert habe, nachdem endlich erkannt worden sei, dass sie an einer bipolaren Störung leide; den Weg zur Diagnose verdanke sie einem Fragebogen, den jedermann via Internet ebenfalls ausfüllen könne. Diese Kampagne mit der Botschaft, dass jegliche seelische Schwankung mögliches Zeichen einer bipolaren Störung sein könne, wurde von der Herstellerfirma von Olanzapin (Zyprexa®) lanciert, nachdem das Mittel zur Behandlung der Manie zugelassen worden war.

Die bipolare Störung umfasste einst nur die klassische manisch- depressive Krankheit; heute werden mehrere Typen unterschieden, womit die Prävalenz von bipolaren Störungen von 0,1 auf über 5% gestiegen ist. Eine «Epidemie» lässt sich umso leichter heraufbeschwören, als die Diagnose von subjektiven Einschätzungen abhängt. In den USA wird die Diagnose zunehmend bei Kindern gestellt, mit der Konsequenz, dass bei 4- Jährigen Medikamentenstudien stattfinden!

Für die Prophylaxe bei bipolarer Störung stehen seit einiger Zeit neben Lithium auch Antiepileptika und Neuroleptika (z.B. Olanzapin) zur Diskussion. Der Begriff Stimmungsstabilisatoren («mood stabilizers») wurde erst im Zusammenhang mit diesen Psychopharmaka eingeführt; für die Verwendung dieser Medikamente zur Basistherapie einer bipolaren Störung gibt es allerdings keine solide Grundlage.

Eine prophylaktische Wirkung von Neuroleptika liess sich nur in einer einzigen, mit Olanzapin durchgeführten Studie zeigen, die wegen ihrer kurzen Dauer erst noch wenig aussagekräftig ist. Epidemiologisch fehlen Hinweise, dass mit den modernen Psychopharmaka die Hospitalisationsrate bei bipolarer Störung gesenkt werden kann. Es scheint sogar, dass die aktiv Behandelten ein erhöhtes Suizidrisiko trifft; nicht zu vergessen sind die anderen Probleme, die mit einer Neuroleptika-Langzeittherapie verbunden sind.(5)

Medizin als Konsumgut

Pharmafirmen geben heute für die Verkaufsförderung mehr Geld aus als für Forschung und Entwicklung. Auch beim Pharmamarketing spielen die Grundsätze des freien Marktes. Dazu gehört die Idee der grenzenlosen, unstillbaren Bedürfnisse, einem zentralen, hauptsächlich in der westlichen Welt verankerten Punkt der Marketingtheorie. Der Mensch sei ein unvollständiges Wesen, in erster Linie nach körperlichem Wohlbefinden und Vermeidung von Unangenehmem trachtend. Mit der Werbung wird der Status quo als nicht befriedigend und der Konsum als Ausweg vor Angst und Unzufriedenheit dargestellt. Die freie Wahl wird als Ausdruck der eigenen Individualität und Identität idealisiert. In der Medizin betrifft dies typischerweise die «Lifestyle»-Medikamente. Sie wurden als erstes für kosmetische und sexuelle Belange eingeführt; unterdessen ist der «Lifestyle»-Bereich jedoch auch mit herkömmlichen Medikamenten wie zum Beispiel Antidepressiva besetzt worden.

Der Glaubenssatz, dass der Fortschritt dem Wettbewerb zu verdanken sei, mag zutreffen, solange Pharmafirmen neue, der Behandlung eigentlicher Krankheiten dienende Präparate entwickeln; er verliert aber an Gültigkeit, wenn das Marketing wichtigster Motor wird. Zugute kommt dabei den Pharmafirpharma- kritik, Jahrgang 28, Nr. 7/2006 Für den persönlichen Gebrauch - Kopieren nicht gestattet 27 men, dass sich ihre Bemühungen mit ethischen Argumenten verbrämen lassen, im Sinne von: das eigene Wohl zum Wohl aller.

Um die Leute davon zu überzeugen, sich nicht als Kranke, sondern als Konsumentinnen und Konsumenten zu betrachten, wird dem Laien der Umgang mit Medikamenten vertraut gemacht und der Ärzteschaft die Expertenrolle weggenommen. Doch das Streben nach perfektem Wohlergehen hat letztlich einen hohen Preis, indem die Kontrolle über wissenschaftliche Objektivität, ethische Prinzipien und faires Verhalten den Firmen überlassen wird.(6)

Ein gewaltiger, aber notwendiger Kampf

Widerstand gegen das «Disease Mongering» fällt schwer. Einerseits stehen enorme Interessen gegenüber; andererseits handelt es sich um ein Phänomen, das die tiefen Ängste vor Leiden und Tod ausnützt, der – mit dem Verlust der Religiosität – absolute Endgültigkeit gewinnt, so dass das Heil in einem möglichst langen Leben gesucht werden muss.

In der Politik sollte unterstützt werden, dass ärztliche Entscheide unabhängig von den mächtigen Industrieinteressen getroffen werden. Ferner muss der Umgang mit wissenschaftlichen Methoden sorgfältiger gepflegt werden, um die Grenzen ihrer Aussagekraft sichtbarer zu machen.

Es wird keine Gesundheitsförderung betrieben, wenn man biologische oder psychische Variationen als Krankheiten definiert. Glatzenbildung beim Mann oder Schüchternheit sind keine Krankheiten, sondern gehören zur normalen Spanne dessen, was uns widerfahren kann. Die Grenzen des Abnormen werden im Interesse der Industrie möglichst weit ausgedehnt, wie es bei Blutdruck oder Blutfetten geschehen ist. Warum aber können nicht die vorhandenen Ressourcen bei der Festlegung von Normwerten als Richtschnur dienen? Man entschiede sich zum Beispiel im Falle der koronaren Herzkrankheit, dass man in der Bevölkerung diejenigen 10% mit dem höchsten Risiko behandle, und würde so die Grenzen von Blutdruck und Cholesterinspiegel bestimmen.

Es mag sinnvoll sein, Risikofaktoren bei einem möglichst grossen Teil einer Population zu erfassen. Man muss allerdings unterscheiden zwischen Risiken, bei denen es um die Vermeidung einer Exposition geht (z.B. Rauchen), und solchen, bei denen man vielen Leuten eine Behandlung zumutet mit einem unklaren Nutzen für das einzelne Individuum. Dies gilt umso mehr als die psychologischen Folgen zu wenig klar sind, die sich aus der Diagnose eines Risikofaktors ergeben. Die Behandlung von Risikofaktoren geht davon aus, dass langfristig Kosten gespart würden. Die höchsten Kosten entstehen aber in der Regel im letzten Lebensjahr – unabhängig davon, in welchem Alter der Tod eintritt –, was sich durch keine medikamentöse Prävention vermeiden lässt. Kein öffentliches Gesundheitswesen kann die Behandlung sämtlicher Risiken finanziell verkraften. Die Politik muss abwägen zwischen den Vorteilen, die mit einer innovativen Pharmaindustrie verbunden sind, und der Gefahr, dass diese Industrie das öffentliche Gesundheitswesen in den Bankrott treibt.

Auch um der Solidarität willen ist zu fragen, wie weit die Allgemeinheit eine Behandlung von Risikofaktoren und «Alltagsproblemen» mittragen soll, oder ob es – global betrachtet – richtig ist, wenn sich der Fokus von medikamentösen Therapien immer mehr von den Armen zu den Reichen verschiebt. (7)

Das Restless-Legs-Syndrom und die Rolle der Medien

Ist der unwiderstehliche Drang, die Beine zu bewegen, eine Krankheit? Braucht man deswegen Medikamente? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Bei einigen Leuten wiegen die Symptome so schwer, dass eine Behandlung nötig ist; bei anderen gehören sie zum normalen Leben, und eine Therapie würde sie nur unnötig dem Risiko von Nebenwirkungen aussetzen.

Am Beispiel des Restless-Legs-Syndrom lässt sich zeigen, wie die Medien beim «Disease Mongering» involviert sind. Mit einer millionenschweren Kampagne, initiiert von der Herstellerfirma von Ropinirol (Adartrel®), wurde die Aufmerksamkeit auf Krankheit und Medikament gelenkt. In den Artikeln, die aufgrund von Pressemitteilungen in den Zeitungen erschienen, finden sich die typischen Elemente des «Disease Mongering». Erstens wird das Problem hinsichtlich Prävalenz aufgebauscht und nur in schwerster Ausprägung geschildert, indem erwähnt wird, dass das Restless-Legs-Syndrom 10% der Bevölkerung betreffe und schlaflose Nächte bedeute, die jahrelang andauern und bis zur Suizidalität führen könnten. Zweitens wird darauf hingewiesen, dass die Diagnose zu selten gestellt wird; es sei die häufigste in der hausärztlichen Praxis nicht erkannte Krankheit, und auch die Betroffenen selbst wüssten oft nicht davon, weshalb sie ermutigt werden, bei Schlaflosigkeit, Tagesmüdigkeit oder Depressionen den Hausarzt oder die Hausärztin auf das Restless-Legs-Syndrom anzusprechen. Drittens wird vermittelt, dass alle Betroffenen medikamentös behandelt werden sollen, wobei auf mögliche Nachteile nur rudimentär eingegangen wird. In vielen Fällen wird Ropinirol namentlich erwähnt und anhand von Fallbeispielen dessen wundersame Wirkung gepriesen (obschon sich in klinischen Studien höchstens eine mittelgradige Wirkung ergeben hatte).(8)

Cholinesterasehemmer— auf der Suche nach einer Krankheit?

Gemäss mehreren systematischen Übersichten ist die Wirksamkeit der Cholinesterasehemmer bei Alzheimer-Demenz als zweifelhaft einzuschätzen. Die Qualität der durchgeführten Studien ist unbefriedigend, und die Ansprechrate unter Cholinesterasehemmern liegt nur um 10% höher als unter Placebo. Die unabhängige britische Gesundheitsorganisation NICE («National Institute for Health and Clinical Excellence») beurteilt den Nutzen der Cholinesterasehemmer äusserst zurückhaltend und weist insbesondere auch auf den ungenügenden Nachweis eines Langzeitnutzens hin. Auch bei anderen Demenzformen liessen sich mit Cholinesterasehemmern keine signifikanten Vorteile erzielen, und bei leichter kognitiver Störung («Mild Cognitive Impairment») konnten sie das Risiko, dass sich eine manifeste Demenz entwickelt, nicht beeinflussen und waren sogar mit einer leicht erhöhten Mortalität verbunden. Obschon also ein biologisch plausibles Konzept dahintersteckt, profitiert nur eine Minorität von einer Behandlung mit Cholinesterasehemmern.(9)

Müssen die Behörden stärker eingreifen?

Nach den Gesetzen ist irreführende Werbung für Medikamente verboten, Verstösse werden aber nur gelegentlich geahndet, was grossenteils wirkungslos bleibt. Für rezeptpflichtige Medikamente ist Direktwerbung beim Verbraucher («Direct-to- Consumer Advertising») nur in den USA und in Neuseeland erlaubt. Andernorts wird der Weg gewählt, Krankheiten ins Gespräch zu bringen und zum Arztbesuch aufzufordern – wo28 Für den persönlichen Gebrauch - Kopieren nicht gestattet pharma-kritik, Jahrgang 28, Nr. 7/2006 bei die Regel, dass keine Markennamen genannt werden, zunehmend ausgehöhlt wird.

Die bisherige Erfahrung zeigt, dass die vorhandenen Richtlinien markennamenlose («unbranded») Werbung nicht zu verhindern vermögen. In Holland führte eine Werbekampagne zur Nagelmykose, in der weder Produkt noch Hersteller erwähnt worden waren, nachweislich zu mehr Konsultationen und Verschreibungen für das betreffende Antimykotikum. Dennoch verlor die Regierung einen Prozess, den sie gegen die Firma angestrengt hatte. Ein Hersteller eines Statins machte in mehreren Ländern Werbung, in der ein fälschlicher Nutzen einer Cholesterinsenkung als Primärprävention suggeriert wurde. Beschwerden gegen diese Anzeigen hatten keine behördlichen Massnahmen zur Folge.

Die Hormonsubstitution nach der Menopause erhöht gemäss der grossen «Women’s Health»-Studie das Risiko schwerer, hauptsächlich kardiovaskulärer Nebenwirkungen um 1%. Diese Daten mündeten zwar in Warnhinweisen, jedoch nicht in umfassenden behördlichen Massnahmen. Die Suchworte «menopause» und «estrogen deficiency» führen im Internet immer noch als erstes auf eine Firmen-Website, die ein Östrogenpflaster anpreist. Ein firmengesponsertes und von der kanadischen Gynäkologie-Fachgesellschaft in diesem Jahr (2006) veröffentlichtes «Journalist’s Menopause Handbook» stellt nach wie vor die vorübergehende Hormonsubstitution (definiert als bis zu fünf Jahren!) in ein vorteilhaftes Licht, ohne die Risiken eingehender zu beleuchten.

In Kanada nahm nach der Einführung von Celecoxib (Celebrex ®) und Rofecoxib (Vioxx®), für die immens Werbung betrieben wurde, der Gesamtverbrauch an nicht-steroidalen Entzündungshemmern zu. Paradoxerweise zählte man auch deutlich mehr hospitalisationsbedürftige gastrointestinale Blutungen, wobei ein Kausalzusammenhang zwar nicht bewiesen, aber doch naheliegend ist. Eine andere Medikamentengruppe, für die in der Laienpresse breit geworben wird – und zwar auch für primär banale Probleme wie Sodbrennen – sind die Protonenpumpenhemmer, ungeachtet ihrer möglichen Nebenwirkungen wie zum Beispiel dem vermutlich erhöhten Risiko einer Clostridium-difficile-Infektion.

Als das Patent von Fluoxetin (Fluctine® u.a.) ablief, wurde es in den USA unter einem neuen Namen zur Behandlung der «prämenstruellen dysphorischen Störung» zugelassen. Kurz danach wurde eine – in der Folge von der FDA beanstandete – Werbung ausgestrahlt, in der nicht darauf hingewiesen wurde, dass diese Störung vom prämenstruellen Syndrom abzugrenzen ist. In Europa wurde die Zulassung für die Indikation der «prämenstruellen dysphorischen Störung» verweigert, weil man befürchtete, dass dann auch die weniger schweren prämenstruellen Beschwerden medikamentös behandelt würden. In den USA wird die Werbung für Medikamente über die FDA geregelt, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, wo man auf eine «Selbstkontrolle» der Industrie setzt. Auf der FDAWebsite finden sich etliche Beispiele von Rügen wegen Verstössen. Doch auch in den in den USA gibt es Fälle von «Disease Mongering», in denen nicht eingeschritten worden ist.

Werbung soll zu einem vernünftigen Einsatz von Medikamenten beitragen; sie darf nicht irreführend sein oder Vorteile zu ziehen versuchen aus den Sorgen der Leute um ihre Gesundheit. Wenn man die direkte Werbung unter dem Gesichtspunkt der freien Meinungsäusserung zulassen will, müsste zumindest die Aufforderung zur ärztlichen Konsultation untersagt werden; auch sollte die Korrektheit solcher Anzeigen vor der Veröffentlichung offiziell überprüft werden. Es ist allerdings fraglich, ob der politische Wille zu Veränderungen vorhanden ist. Bislang haben es Arzneimittelbehörden versäumt, die Regelung der Medikamentenwerbung als eine wichtige Aufgabe im öffentlichen Gesundheitswesen festzusetzen.(10)

Was lernt man während des Studiums?

In Entwicklungsländern sind die Marketing-Vorschriften weniger strikt als bei uns, was von den pharmazeutischen Firmen ausgenutzt wird. In Indien sind bei Gesundheitsproblemen Apotheken eine wichtige Anlaufstelle, und oft werden Medikamente illegal ohne Rezept verkauft. Viele Apotheken erhalten von den Firmen Geschenke oder Vergünstigungen.

Um einer Medikalisierung des täglichen Lebens vorzubeugen, sollte bereits bei Studierenden das Bewusstsein geschärft werden. Gemäss einer indischen Umfrage konnten nur 15% der Medizinstudentinnen und -studenten im letzten Ausbildungsjahr das «Disease Mongering» erklären; bei den Studierenden der Pharmazie waren es 55%, wobei allerdings die Mehrheit glaubte, die Regierung und nicht die Pharmaindustrie stecke hinter dem Problem. Somit müssen Studenten und Studentinnen, von denen die meisten nicht einmal ahnen, dass sogar Lehrbücher mit Hilfe von Industriegeldern geschrieben werden, als wichtige Zielgruppe erfasst werden, um über das «Disease Mongering» zu informieren.(11)

Standpunkte und Meinungen

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Disease Mongering (28. November 2006)
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pharma-kritik, 28/No. 7
PK155
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