Natalizumab
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 29
, Nummer 11, PK187
Redaktionsschluss: 8. Januar 2008
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2007.187 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Natalizumab (Tysabri®) wird zur Behandlung bei schwerer schubförmiger multipler Sklerose (MS) empfohlen.
Chemie / Pharmakologie
Auf der Oberfläche von Leukozyten haften sogenannte Integrine. Es handelt sich um Adhasionsmolekule, die aus einer alpha- und einer beta-Untereinheit bestehen und bei diversen zellulären Wechselwirkungen eine Rolle spielen, zum Beispiel wenn Immunzellen auf ihrem Weg von den Gefässen ins Zielgewebe die Endothelschranke passieren müssen.
Natalizumab ist ein rekombinanter, von murinen Myelomzellen produzierter monoklonaler Antikörper, der sich an die alpha4-Untereinheit von alpha4-beta1- und von alpha4-beta7-Integrin bindet, die mit Ausnahme der neutrophilen Granulozyten auf allen Leukozyten sitzen. Durch die Blockierung der alpha4-Integrine werden Immunzellen daran gehindert, aus dem Gefässsystem ins Gewebe abzuwandern (wobei das alpha4-beta1-Integrin an der Leukozytenmigration im ZNS, das alpha4-beta7-Integrin an derjenigen im Dünndarm beteiligt ist); möglicherweise wird auch die direkte Aktivierung von T-Lymphozyten gebremst. Ferner scheint mit der Blockierung des alpha4-beta1-Integrins die in der extrazellularen Matrix stattfindende Bindung an Liganden wie Fibronektin und Osteopontin gehemmt zu werden. Zwar sind die Einzelheiten noch nicht geklärt, doch wird angenommen, dass es diese Wirkmechanismen von Natalizumab sind, die zur Verlangsamung der Entzündungs- und Demyelinisierungsprozesse bei MS beitragen.(1-3)
Pharmakokinetik
Nach intravenöser Gabe von Natalizumab werden nach 1 bis 2 Stunden Plasmaspitzenspiegel erreicht. Antikörper werden in der Regel via Phagozytose abgebaut; bei Natalizumab sind die näheren Details jedoch nicht bekannt. Als Halbwertszeit werden 16 Tage angegeben. Die Elimination bei Nieren- oder Leberinsuffizienz ist nicht untersucht.(2,3)
Klinische Studien
Die Wirksamkeit von Natalizumab bei MS ist in fünf placebokontrollierten Doppelblindstudien erprobt worden. Darunter sind drei kleinere, kürzer dauernde Studien: sie zeigten, dass Natalizumab das Auftreten neuer MS-typischer Läsionen im Gehirn signifikant reduzieren kann,(4,5) aber – wenn es kurz nach Beginn eines MS-Schubs verabreicht wird – keinen Einfluss auf dessen Verlauf hat.(6)
Die zwei übrigen Untersuchungen, nach einem vergleichbaren Protokoll durchgeführt, verkörpern die Hauptstudien. Sie befassten sich mit erwachsenen Patienten und Patientinnen mit schubförmig-remittierender MS, die im vorausgehenden Jahr mindestens einen Krankheitsschub erlitten hatten; MS-Kranke mit primärer oder sekundärer chronisch-progressiver Verlaufsform wurden nicht aufgenommen. Vom Behinderungsgrad her waren maximal 5 auf der von 0 bis 10 Punkte reichenden «Expanded disability status scale» (EDSS) erlaubt (5 Punkte entsprechen einer Gehstrecke von rund 200 m, die ohne Hilfe bewältigt werden kann). Natalizumab wurde in einer Dosis von 300 mg alle 4 Wochen intravenös verabreicht. Die Studiendauer wurde auf rund 2¼ Jahre veranschlagt. Im Verlauf der Studien analysierte man zwei verschiedene primäre Endpunkte: nach 1 Jahr die Häufigkeit der Krankheitsschübe und nach 2 Jahren die Anzahl der Behandelten, deren Behinderungsgrad auf der EDSS-Skala während mindestens 12 Wochen 1 oder mehr Punkte über dem Ausgangswert gelegen hatte (bei einem Ausgangswert von 0 bildeten 1,5 Punkte die Grenze).
In der ersten Studie (Kurzbezeichnung: AFFIRM, n=942) wurde Natalizumab als Monotherapie verabreicht. Unter Natalizumab betrug die Häufigkeit von Krankheitsschüben (nach 1 Jahr) 0,26 und der Prozentsatz der Personen, bei denen der Behinderungsgrad gestiegen war (nach 2 Jahren), 17%; unter Placebo waren es 0,81 bzw. 29%.(7) Bei der zweiten Studie (Kurzbezeichnung: SENTINEL) wurde Natalizumab in einer Kombinationstherapie geprüft. 1171 MS-Kranke, die unter einer Therapie mit Interferon beta-1a (Avonex®) standen, erhielten zusätzlich Natalizumab oder Placebo. Mit der Kombination von Interferon plus Natalizumab erreichte die Häufigkeit von Krankheitsschüben (nach 1 Jahr) 0,38 und der Anteil derjenigen, bei denen sich der Behinderungsgrad erhöht hatte (nach 2 Jahren), 23%; in der nur mit Interferon behandelten Kontrollgruppe waren es 0,82 bzw. 29%.(8)
Unerwünschte Wirkungen
Nebenwirkungen, die unter Natalizumab häufiger auftraten als unter Placebo, waren Kopfschmerzen, Schwindel, gastrointestinale Beschwerden (Übelkeit, Erbrechen, Gastroenteritis), Infekte (obere Luftwege, Harnwege), Gelenkschmerzen und periphere Ödeme. Auch Überempfindlichkeitsreaktionen (Urtikaria, Pruritus, Fieber, Rigor, Anaphylaxie) wurden beobachtet; sie lassen sich als Infusionsreaktionen ansehen oder mit der Entwicklung von Antikörpern gegen Natalizumab in Zusammenhang bringen. Etwa 6% der Behandelten weisen bleibend solche Antikörper auf, was vermutlich mit einer verringerten Wirksamkeit von Natalizumab einhergeht.(2,3) Als direkte Folge des Wirkmechanismus steigt unter Natalizumab die Leukozytenzahl im Blut.
In der SENTINEL-Studie trat in der Gruppe, die Natalizumab und Beta-Interferon erhielt, bei 2 Personen eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) auf, woran eine der beiden starb. Ein weiterer PML-Fall wurde in einer anderen Studie diagnostiziert. Die PML, oft tödlich verlaufend, ist eine bekannte Komplikation bei zellulärer Immunsuppression (z.B. bei HIV-Infektion). Sie beruht auf einer Reaktivierung einer Infektion mit dem JC-Virus (John-Cunningham-Virus), das bei über 80% der Bevölkerung latent vorhanden ist. Die PML-Fälle unter Natalizumab waren Anlass, dass das Mittel vorübergehend zurückgezogen wurde. Ob Natalizumab allgemein das Risiko von opportunistischen Infekten erhöht, ist noch nicht klar.
Interaktionen
Eine Kombination mit immunmodulierenden Substanzen (Beta- Interferon, Glatiramer = Copaxone®) oder mit Immunsuppressiva erhöht vermutlich das Risiko opportunistischer Infekte (inkl. JC-Virus-Reaktivierung) und ist deshalb kontraindiziert.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Natalizumab (Tysabri®) steht als Infusionskonzentrat mit 300 mg zur Verfügung und wird monatlich einmal über eine 1-stündige Infusion verabreicht. Es ist zugelassen für die Monotherapie bei stark aktiver oder rasch fortschreitender schubförmig-remittierender MS und soll nur zum Einsatz kommen, wenn andere immunmodulierende Medikamente versagen oder nicht toleriert werden.
Die Behandlung bedarf fachkundiger neurologischer Aufsicht. Neu auftretende neurologische Symptome, die nicht zu einem MS-Schub passen, müssen sofort abgeklärt werden, um eine mögliche PML-Erkrankung auszuschliessen.
Natalizumab scheint gemäss Tierversuchen die Abortrate zu erhöhen und sollte in der Schwangerschaft nicht verwendet werden. Es wird anscheinend auch in die Muttermilch ausgeschieden, weshalb bei einer Behandlung mit Natalizumab vom Stillen abgeraten wird.
Natalizumab ist kassenpflichtig und kostet monatlich 2999.80 Franken. Andere MS-Basistherapeutika sind etwas billiger: für denselben Zeitraum kostet Interferon beta-1a als Avonex® (1-mal 30 µg/Woche i.m.) 1665.85 Franken, als Rebif® (3-mal 44 µg/Woche s.c.) 2245.25 Franken, Interferon beta-1b (Betaferon®, 250 µg/2 Tage) 1673.40 Franken und Glatiramer (Copaxone®, 20 mg/Tag) 1650.30 Franken.
Kommentar
Natalizumab lässt sich als ein potentes Basismedikament zur Behandlung der multiplen Sklerose einstufen. Dass es anderthalb- bis zweimal so teuer ist wie andere immunmodulierende Substanzen, ist keine Überraschung, wenn man die Entwicklungen bei den Arzneimittelpreisen verfolgt. Am meisten wird das Bild aber dadurch getrübt, dass Natalizumab im Verdacht steht, mit der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie eine potentiell tödliche Nebenwirkung verursachen zu können – etwas, das auch bei Rituximab (MabThera®) diskutiert wird, einem anderen monoklonalen Antikörper, der das Immunsystem beeinflusst. Da erst verhältnismässig wenig Leute Natalizumab erhalten haben und noch keine Daten zu einer längeren, mehr als zwei Jahre dauernden Verabreichung vorliegen, lässt sich die Grössenordnung des PML-Risikos praktisch nicht abschätzen. So bleibt eine Behandlung mit Natalizumab, auch wenn in ein strenges Kontrollprogramm eingebunden, mit einer beträchtlichen Hypothek belastet.
Literatur
- 1) Keeley KA et al. Ann Pharmacother 2005; 39: 1833-43
- 2) Steiner MA, Choudhary K. J Pharm Soc Wis 2007 (March/April): 63-8
- 3) http://www.pswi.org/professional/pharmaco/Natalizumab.pdf
- 4) http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs/EPAR/tysabri/H-603- en6.pdf
- 5) Tubridy N et al. Neurology 1999; 53: 466-72
- 6) Miller DH et al. N Engl J Med 2003; 348: 15-23
- 7) O'Connor PW et al. Neurology 2004; 62: 2038-43
- 8) Polman CH et al. N Engl J Med 2006; 354: 899-910
- 9) Rudick RA et al. N Engl J Med 2006; 354: 911-23
Standpunkte und Meinungen
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