Medizinprodukte: EU-konformes Chaos

ceterum censeo

Einer meiner Patienten erhielt im Jahr 2006 zwei Koronarstents; es geht ihm gut. Ich stellte mir aber nach einiger Zeit die Frage, wie lange dieser Patient eine duale Plättchenhemmung mit Acetylsalicylsäure (Aspirin® Cardio u.a.) und Clopidogrel (Plavix®) benötigen würde. (Zu diesem Thema werden wir nächstens in pharma-kritik eine kleine Übersicht publizieren.) Ich meinte mich zu erinnern, dass es sich um beschichtete Stents («drug eluting stents») handelte; ein Blick auf die Berichte des Kardiologen vermittelte mir jedoch keine Sicherheit. Mit etwas Mühe fand ich im Protokoll der koronaren Intervention den Namen der Stents, die implantiert worden waren. Mit diesem Namen hoffte ich nun rasch Einzelheiten zu den Stents erfahren zu können. Weit gefehlt! Das einzige, was ich mit einer Internet- Recherche ausfindig machen konnte, war nämlich, dass es sich um eine Stent-Variante handelte, die in den USA im Jahr 2007 aus dem Handel genommen wurde.

Mit diesem Beispiel möchte ich zeigen, wie schwierig es ist, zu einem sogenannten Medizinprodukt brauchbare Informationen zu finden. Es gibt ja Tausende von Medizinprodukten – vom bescheidensten Schnellverband bis zu den komplexesten Implantaten gehört alles dazu. Ist es nicht eigenartig, dass wir eine gute, umfassende Information zu Medikamenten als selbstverständlich ansehen, aber bei Medizinprodukten ganz und gar auf adäquate Information verzichten müssen?

Auch in der hausärztlichen Praxis sollte uns doch ein Minimum an Angaben zur Verfügung stehen: Hersteller, Verfügbarkeit, allfällige Studienresultate und Erfahrungsdaten – alles Daten, die auch für uns von Interesse sind. Am besten wären natürlich Ergebnisse von vergleichenden Untersuchungen. Nur wenn man vergleicht, kann man feststellen, ob die beste Behandlung gewählt wurde. Leider dürften bei den meisten Medizinprodukten keine methodologisch korrekten Vergleichsdaten vorliegen.

Wer ist für diese grosse Lücke verantwortlich? In der Schweiz sind die Medizinprodukte der Kontrolle durch das «Schweizerische Heilmittelinstitut» Swissmedic unterstellt. Im Gegensatz zu den Medikamenten handelt es sich dabei jedoch nur formal um eine Kontrolle. Auf Grund der bilateralen Verträge mit der EU sind Medizinprodukte, die mit dem CE-Zeichen versehen sind, in der Schweiz automatisch für die deklarierte Indikation zugelassen. (Natürlich handelt es sich um reziprokes Recht – so sind auch schweizerische Medizinprodukte mit dem CE-Label automatisch in der EU zugelassen.) Es ist jedoch keineswegs so, dass man nun bei den EU-Behörden bessere, sinnvollere Dokumente finden würde. Zu den Medizinprodukten und der entsprechenden CE-Kennzeichnung gibt es zwar die verschiedensten, teilweise sehr unübersichtlichen Richtlinien und Merkblätter,(1,2) aber keine gute, überblickbare Dokumentation.

Was bedeutet es nun, wenn ein Medizinprodukt mit dem CE-Label ausgezeichnet ist? Da ist zunächst festzuhalten, dass offiziell niemand so recht weiss, was «CE» heissen soll – einleuchtend ist «Conformité Européene», aber es gibt noch andere Interpretationen. Dies ist jedoch kaum von Bedeutung. Wichtiger wäre zu wissen, was die CEKennzeichnung über die Qualität des Produktes aussagt.

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Medizinprodukte vier verschiedenen Klassen zugeordnet werden:

In der Klasse I finden sich «problemlose» Produkte wie Rollstühle, Stützstümpfe, Verbände. Innerhalb der Klasse I sind zwei spezielle Unterklassen definiert (Is: sterile Produkte, Im: Produkte mit Messfunktion).

Die Klasse IIa umfasst Produkte, die nur «mässig invasiv» oder nur während kurzer Zeit angewandt werden (z.B. Hörgeräte, Kontaktlinsen).

Die Klasse IIb beinhaltet Produkte mit «höherem methodischem Risiko», die systemische Wirkungen haben oder während mehr als 30 Tagen zur Anwendung gelangen (z.B. Dialysegeräte, Dentalimplantate).

Produkte mit höherem Gefahrenpotential gehören zur Klasse III: dies sind Produkte wie z.B. Gelenkprothesen und Stents. Die Klassifizierung eines Medizinproduktes ist nicht abschliessend definiert, sondern ergibt sich aus der jeweiligen Anwendung.

Separat definiert (und nach einer eigenen EU-Richtlinie geregelt) sind die «aktiven» Medizinprodukte, deren Anwendung von einer Energiequelle (z.B. einer Batterie) abhängig ist.

Medizinprodukte der Klasse I (mit Ausnahme der erwähnten Unterklassen Is und Im) können vom Hersteller selbst «bewertet» und als CE-konform bezeichnet werden. Dazu müssen eine technische Dokumentation und Unterlagen zum Risikomanagement bereit gestellt werden. Nationale Behörden können diese Unterlagen überprüfen.

Bei allen übrigen Medizinprodukten ist zwar die Bewertung durch den Hersteller erforderlich, zudem müssen Produkte der höheren Klassen einer sogen. «Benannten Stelle» zur Zertifizierung vorgelegt werden. Es gibt in Europa ziemlich viele «Benannte Stellen», die Medizinprodukte zertifizieren; auch in der Schweiz sind fünf solche Institutionen bezeichnet. (3) Die Herstellerorganisationen legen in ihren Veröffentlichungen viel Wert darauf, dass die Konformitätsprüfung ausreiche, um Qualität, Sicherheit und Funktionstüchtigkeit der Produkte zu sichern. Die CE-Kennzeichnung wird gern einem «Gütesiegel» gleichgesetzt. Es gibt jedoch auch Quellen, die klar sagen, die CE-Kennzeichnung sei «kein Qualitätssiegel».(4) Was wird denn wirklich bewertet? Untersucht werden, unter anderem, die Reduktion und der Ausschluss von Infektionsrisiken, die physikalische Sicherheit, die Vollständigkeit und Verständlichkeit der Gebrauchsanweisungen und die Einhaltung der zugesagten Produkteigenschaften. (5) Es handelt sich wesentlich um eine «technische» Prüfung. Was jedoch die – ebenfalls geforderten – Kriterien «klinische Bewertung» oder «die Sicherstellung des zugesagten Nutzens» anbelangt, bestehen grosse Unterschiede zu vergleichbaren Prüfungen von Medikamenten. Die entsprechenden europäischen Richtlinien haben nämlich, wie in anderen Fällen, in erster Linie zum Ziel, den freien Warenaustausch zu ermöglichen.

Ob dabei die Interessen der Behandelten sinnvoll berücksichtigt werden, ist keineswegs gesichert. Gewiss findet sich an verschiedenen Stellen die Forderung nach klinischer Prüfung. Wie es aber möglich sein sollte, dass die zahlreichen «Benannten Stellen» die medizinisch-klinischen Belange adäquat prüfen könnten, ist schleierhaft, besonders da nicht klar genug festgelegt ist, wie z.B. eine Wirksamkeitsprüfung erfolgen sollte. Es wundert daher nicht, dass die CE-Zertifikation z.B. von Stents von ärztlicher Seite scharf kritisiert wird. Gemäss einer systematischen Übersicht zu den beschichteten Stents ist die CE-Kennzeichnung in diesem Bereich praktisch wertlos. Von 19 beschichteten Stents mit CE-Kennzeichnung waren im Oktober 2007 für 14 die Wirksamkeit nach Evidenzbasierten Kriterien nicht ausreichend dokumentiert.(6) Medikamentös beschichtete Stents sind jedoch nur ein besonders krasses Beispiel für die Misere, die im Bereich der Medizinprodukte herrscht. Vielleicht ginge es noch an, wenn Geräte aller Art – Venenkatheter, Defibrillatoren, Hämodialyse-Zubehör und vieles andere – nur «technisch» geprüft würden. Allgemein sind Probleme mit Medizinprodukten aber recht häufig. Die von der Zulassungsbehörde (Swissmedic) veröffentlichte Liste der zurückgerufenen Medizinprodukte spricht dazu eine klare Sprache: allein im Monat Februar 2009 mussten mindestens 25 Produkte zurückgerufen werden.(7) Bei implantierten Produkten – Linsen, Gelenkprothesen, implantierten Elektrogeräten und -pumpen – wäre es wohl unerlässlich, dass die Wirksamkeit und Verträglichkeit so genau wie bei Medikamenten geprüft würde.

Einmal mehr werden die Interessen der Produzenten den weit wichtigeren Interessen der Behandelten und Behandelnden voran gestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die entsprechenden europäischen Richtlinien innert nützlicher Frist geändert werden, ist wohl gering. Das Minimum, das wir dennoch von den Zulassungsbehörden verlangen sollten, ist ein übersichtliches Verzeichnis der implantierbaren Medizinprodukte mit den Angaben, die ich oben erwähnt habe. Dieses Verzeichnis könnte im Internet oder allenfalls auf CD veröffentlicht werden und sollte ebenso allgemein zugänglich sein wie das Arzneimittel- Kompendium. Es ist durchaus nicht so, dass dies ein Monsterunterfangen sein müsste. Das «Kompendium zur Hüftendoprothetik», das 2002 eine Kollegin in München als Dissertation verfasst hat,(8) kann gut als Modell dafür dienen, wie ein solches Verzeichnis mindestens begonnen werden könnte. Langfristig ist sicher eine umfassendere und dennoch konzise Dokumentation auch der Klasse-IIb-Medizinprodukte anzustreben.

Standpunkte und Meinungen

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Medizinprodukte: EU-konformes Chaos (3. März 2009)
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pharma-kritik, 30/No. 12
PK238
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