Reboxetin
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 23
, Nummer 03, PK260
Redaktionsschluss: 14. Juli 2001
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2001.260 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Reboxetin (Edronax®) wird als Noradrenalin-Wiederauf-nahmehemmer (NARI) zur Behandlung von Depressionen empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Reboxetin ist ein a-Ariloxybenzyl-Derivat von Morpholin und unterscheidet sich nur durch eine zusätzliche Phenylgruppe von Viloxazin (Vivalan®), einem Antidepressivum, das schon seit vielen Jahren z.B. in Deutschland erhältlich ist. Reboxetin ist ein Razemat; beide Enantiomere sind pharmakologisch aktiv, wobei die S-Form potenter ist als die R-Form. Die antidepressive Wirkung von Reboxetin wird wahrscheinlich über eine Modulation der noradrenergen Übertragung vermittelt. Reboxetin hemmt die Wiederaufnahme von Noradrenalin im synaptischen Spalt, was zu einer Downregulation von a2- und ß-Rezeptoren sowie zu einer erhöhten Empfindlichkeit von postsynaptischen a1-Rezeptoren führt. Die Wiederaufnahme von Serotonin wird durch Reboxetin ebenfalls schwach gehemmt; der Dopaminstoffwechsel und cholinerge oder histaminerge Rezeptoren werden dagegen nicht beeinflusst. Andere Antidepressiva, bei denen die Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung eine wichtige Rolle spielt, sind das schon erwähnte Viloxazin, ferner das Trizyklikum Desipramin (Pertofran®, in der Schweiz nicht mehr erhältlich) und die tetrazyklische Substanz Maprotilin (Ludiomil®).(lit)
Pharmakokinetik
Nach oraler Einnahme von Reboxetin werden innerhalb von 2 bis 4 Stunden maximale Plasmaspiegel erreicht. Die biologische Verfügbarkeit wird mit 94% angegeben. Im Plasma ist Reboxetin zu über 97% an Eiweisse gekoppelt, und zwar hauptsächlich an das saure a1-Glykoprotein. Der grösste Teil von Reboxetin wird in der Leber über das Zytochrom CYP3A4 abgebaut. Der Hauptmetabolit ist pharmakologisch nicht aktiv. Die endgültige Ausscheidung erfolgt grösstenteils über die Nieren, zu 78% in Form von Metaboliten, zu 9% als unveränderte Substanz. Die Plasmahalbwertszeit beträgt 12 bis 13 Stunden. Die Kinetik der beiden Reboxetin-Enantiomere ist nicht identisch: die Plasmakonzentrationen der weniger potenten R-Form sind ungefähr doppelt so hoch wie diejenigen der S-Form, was mit unterschiedlicher Eiweissbindung erklärt wird. Sowohl bei Leber- und Niereninsuffizienz als auch im Alter ist die Clearance von Reboxetin reduziert.(lit)
Klinische Studien
Reboxetin ist in den klinischen Studien mit Placebo und mit anderen Antidepressiva verglichen worden. Die Wirkung wurde mit der "Hamilton Rating Scale for Depression" (HAM-D) sowie zum Teil mit weiteren Skalen wie der "Clinical Global Impression Scale" (CGI) oder "Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale" (MADRS) gemessen. Als ein Ansprechen auf die Therapie war definiert, wenn die HAM-D-Punktezahl mindestens um 50% abnahm, als eine Remission, wenn auf der HAM-D-Skala weniger als 11 Punkte erreicht wurden. Die meisten Studien befassten sich mit Personen, die zwischen 18 und 65 Jahre alt waren, an einer schwerwiegenden depressiven Erkrankung ("major depressive disorder") litten und mindestens 22 Punkte auf der HAM-D-Skala aufwiesen. Bei allen Untersuchungen, die im Folgenden angeführt sind, handelte es sich um Doppelblindstudien.
Die antidepressive Wirksamkeit von Reboxetin (10 mg/Tag) wurde in einer kleinen sechswöchigen Studie im Vergleich mit Placebo dokumentiert. Signifikante Unterschiede zwischen Reboxetin und Placebo waren ab dem 10. bis 14. Behandlungstag zu verzeichnen.(4)
In drei Studien ist Reboxetin mit einem trizyklischen Antidepressivum verglichen worden: In einer sechswöchigen Studie wurde Reboxetin (8 bis 10 mg/Tag) oder Imipramin (Tofranil®, 150 bis 200 mg/Tag) verabreicht. Von 256 Behandelten brachen in beiden Gruppen rund ein Viertel die Studie vorzeitig ab. Unter Reboxetin fiel die durchschnittliche Punktezahl auf der HAM-D-Skala von 29 auf 10, unter Imipramin von 28 auf 10. Mit Reboxetin erzielte man eine Ansprechrate von 69% und eine Remissionsrate von 52%; mit Imipramin waren es 56% und 46%. Diese Unterschiede sind nicht signifikant, und auch in Bezug auf andere Parameter wirkten beide Mittel gleich gut.(5)
347 Personen im Alter über 65 mit der Diagnose einer Depression oder einer Dysthymie wurden während acht Wochen ebenfalls mit Reboxetin (4 bis 6 mg/Tag) oder Imipramin (50 bis 100 mg/Tag) behandelt. Gesamthaft wirkten beide Medikamente gleich gut; bei den Personen mit Dysthymie erwies sich Imipramin allerdings als leicht überlegen.(6) In der dritten Studie, in der Desipramin (100 bis 200 mg/Tag) als Vergleichssubstanz diente, zeichnete sich Reboxetin (4 bis 8 mg/Tag) durch eine etwas schnellere und bessere Wirkung aus.(7)
In zwei Studien ist Reboxetin mit dem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Fluoxetin (Fluctine® u.a) verglichen worden: 128 Personen verordnete man während acht Wochen Reboxetin (8 bis 10 mg/Tag) oder Fluoxetin (20 bis 40 mg/Tag). Unter Reboxetin besserten sich die depressiven Symptome auf der HAM-D-Skala um 19,2, unter Fluoxetin um 16,8 Punkte; dieser Unterschied ist nicht signifikant. Auch Ansprech- und Remissionsraten waren in beiden Gruppen gleich.(8) In einer anderen, placebokontrollierten Studie mit 381 Personen waren Reboxetin (8 bis 10 mg/Tag) und Fluoxetin (20 bis 40 mg/Tag) ebenfalls praktisch gleichwertig.(9) In den beiden Vergleichen mit Fluoxetin wurde auch eine Messskala eingesetzt, die in Zusammenarbeit mit der Reboxetin-Herstellerfirma entwickelt worden ist: mit der "Social Adaptation Self-evaluation Scale" (SASS) sollen die Betroffenen selbst einschätzen, wie es sich zum Beispiel mit ihren Beziehungen und Interessen innerhalb der Familie oder bei der Arbeit verhält oder wie stark das Selbstbild beeinträchtigt ist. Während in der ersten Studie auch auf der SASS-Skala kein signifikanter Unterschied zu beobachten war,(8) senkte Reboxetin in der zweiten die SASS-Punktezahl deutlich mehr als Fluoxetin.(9) Allerdings ist dieses Ergebnis zurückhaltend zu bewerten, da die SASS-Skala noch wenig validiert ist.
In einer Langzeitstudie wurde Reboxetin ein Jahr lang eingesetzt. Nach einer sechswöchigen Behandlung mit Reboxetin (8 mg/Tag) erhielten 283 Personen über 46 Wochen doppelblind Reboxetin in derselben Dosierung oder Placebo. 139 Personen beendeten die Studie vorzeitig. Unter Reboxetin erlebten 22% einen Rückfall, unter Placebo 56%.(lit)Unerwünschte Wirkungen
Bei 20 bis 30% der Behandelten traten unter Reboxetin Mundtrockenheit auf, in 15 bis 20% Obstipation, in 10 bis 15% Schwitzen, Schlaflosigkeit, Übelkeit und Hypotonie. Auch über Impotenz, Tachykardie, Schwindel, Parästhesien, verschwommenes Sehen und Kopfweh wurde berichtet.(11) Bei einem Mann traten unter Reboxetin täglich zwei bis drei Spontanejakulationen auf.(12) Auch ein SIADH mit Hyponatriämie ist vorgekommen.(13)
Verglichen mit anderen Antidepressiva treten Nebenwirkungen ungefähr gleich häufig auf; lediglich das Spektrum ist etwas anders: so führt Reboxetin häufiger als andere Antidepressiva zu Harnretention, und zwar bei 4 bis 12% der Behandelten (besonders bei Männern). Gegenüber Trizyklika verursacht es seltener Mundtrockenheit, orthostatische Hypotonie, Tremor und Somnolenz, gegenüber Serotonin-Wiederaufnahmehemmern seltener Übelkeit, Diarrhoe und Somnolenz. In den Studien haben rund 10% der Teilnehmenden die Behandlung mit Reboxetin wegen Nebenwirkungen abgebrochen - etwas weniger als bei Trizyklika, etwas mehr als bei Fluoxetin.
Knapp 20 Fälle von Überdosierungen sind bislang bekannt; die höchste eingenommende Dosis betrug 224 mg. Die Überdosierungen manifestierten sich in Form von Tachykardie, Hypertonie, Schwitzen und Übelkeit. Todesfälle traten nicht auf.
Interaktionen
Wird Reboxetin zusammen mit CYP3A4-Hemmern verabreicht, kann sich die Clearance deutlich reduzieren, was sich in Kombination mit Ketoconazol (Nizoral®) zeigen liess. In vitro ist Reboxetin selbst ein schwacher Hemmer von CYP3A4 und CYP2D6, was indessen keine wesentliche klinische Bedeutung zu haben scheint.(3)
Wegen möglicher pharmakodynamischer Wechselwirkungen sollte Reboxetin nicht mit MAO-Hemmern kombiniert werden.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Reboxetin (Edronax®) wird als teilbare Tabletten zu 4 mg angeboten und ist kassenzulässig. Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 8 mg/Tag, auf zwei Dosen verteilt. Bei zu geringer Wirkung kann auf 10 mg/Tag erhöht werden. Bei älteren Leuten sowie bei Personen mit Leber- oder Niereninsuffizienz soll die übliche Dosis halbiert werden (4 bis 6 mg/Tag). Da entsprechende Daten fehlen, soll Reboxetin nicht bei schwangeren und stillenden Frauen eingesetzt werden. Auch der Einsatz bei Kindern und Jugendlichen ist nicht geprüft. Es wird darauf hingewiesen, dass Reboxetin bei Personen mit Harnentleerungsstörungen, Krampfanfällen in der Anamnese, Neigung zu orthostatischer Hypotonie oder anderen kardiovaskulären Krankheiten nur mit Vorsicht verwendet werden sollte. Zur Kombination von Reboxetin mit anderen Antidepressiva (z.B. Trizyklika, Serotonin-Wiederaufnahmehemmern) sind praktisch keine Erfahrungen vorhanden.
In der Dosis von 8 mg/Tag kostet Reboxetin 74 Franken pro Monat, gleich viel wie z.B. das Originalpräparat von Fluoxetin (Fluctine®) in einer Dosis von 20 mg/Tag. Fluoxetin-Generika kosten 50 bis 60 Franken und ältere Antidepressiva (in einer Dosis von 150 mg/Tag) zwischen 30 und 50 Franken monatlich.
Kommentar
Reboxetin wird als erster selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer angepriesen. Das tönt innovativer, als es in Wirklichkeit ist. Mitte der 60er Jahre synthetisiert, stellt es eigentlich eine ziemlich alte Substanz dar. Auch das Wirkprinzip ist nichts Neues: Viloxazin, das sich von Reboxetin chemisch nur marginal unterscheidet und über denselben Mechanismus wirken dürfte, ist andernorts seit Jahren im Handel und hat keine grosse Wellen geworfen. Reboxetin ist ähnlich wirksam wie andere Antidepressiva. Man begegnet einem unterschiedlichen Nebenwirkungsspektrum; grundsätzlich wird Reboxetin aber nicht besser vertragen als andere Substanzen. So ist Reboxetin im Augenblick im Wesentlichen als Alternativsubstanz zu sehen, wenn ein besser dokumentiertes Antidepressivum ungenügend wirkt oder wegen Nebenwirkungen abgesetzt werden muss.
Literatur
- 1) Scates AC, Doraiswamy PM. Ann Pharmacother 2000; 34: 1302-12
- 2) Kent JM. Lancet 2000; 355: 911-8
- 3) Fleishaker JC. Clin Pharmacokinet 2000; 39: 413-27
- 4) Versiani M et al. J Clin Psychopharmacol 2000; 20: 28-34
- 5) Berzewski H et al. Eur Neuropsychopharmacol 1997; 7 (Suppl 1): S37-47
- 6) Katona C et al. J Affect Disord 1999; 55: 203-13
- 7) Ban TA et al. Hum Psychopharmacol 1998; 13 (Suppl 1): S29-39
- 8) Massana J et al. Int Clin Psychopharmacol 1999; 14: 73-80
- 9) Dubini A et al. J Psychopharmacol 1997; 11 (4 Suppl): S17-23
- 10) Versiani M et al. J Clin Psychiatry 1999; 60: 400-6
- 11) Baldwin DS et al. Rev Contemp Pharmacother 2000; 11: 321-30
- 12) O'Flynn R, Michael A. Br J Psychiatry 2000; 177: 567-8
- 13) Ranieri P et al. N Engl J Med 2000; 342: 215-6
Standpunkte und Meinungen
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