Verschreibe ich optimal?

ceterum censeo

Wie noch nie in der Geschichte der Menschheit stehen heute bei vielen Krankheiten wirksame Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Noch vor einem halben Jahrhundert war eine arterielle Hypertonie in der Regel mit einer ungünstigen Prognose verbunden: Myokardinfarkt, Herz- und Niereninsuffizienz, Schlaganfälle, Erblindung sind die wichtigsten mit einer Hypertonie verbundenen Gefahren, die sich damals keineswegs zuverlässig vermeiden lies-sen. Heute stehen uns über siebzig Substanzen zur Auswahl, die alle eine gut nachgewiesene blutdrucksenkende Wirkung besitzen. Nicht nur für den Bereich der Blutdruckbehandlung, sondern auf praktisch allen Gebieten haben sich die Arzneimittel ausserordentlich vermehrt. Ärztinnen und Ärzte sind also am Ende dieses Jahrhunderts viel seltener als früher mit dem Problem konfrontiert, nicht behandeln zu können. Dafür ist die Qual der Wahl immer grösser geworden.

Es besteht ja nicht der geringste Zweifel, dass es erhebliche Unterschiede z.B. zwischen den verschiedenen Antihypertensiva gibt. Ideal wäre natürlich, wenn bestimmte «Arzneimittelprofile» mit individuellen Profilen von kranken Menschen zusammenpassen würden. In beschränktem Ausmass ist dies ja auch tatsächlich der Fall; noch häufiger kommt es vor, dass bestimmte Medikamente nicht zu bestimmten Kranken passen. So machen zum Beispiel bestimmte Begleitkrankheiten den Einsatz von Diuretika als blutdrucksenkende Mittel manchmal fragwürdig. Es wäre aber falsch, sich bei der Therapiewahl in erster Linie auf kurzfristig nachweisbare Auswirkungen zu stützen. Tatsächlich sind es die langfristigen Konsequenzen, die über die Qualitäten einer Therapie entscheiden. Die vor kurzem veröffentlichten britischen Diabetesstudien haben unter anderem gezeigt, dass es offenbar keine Rolle spielt, ob hypertensive Diabeteskranke mit einem Betablocker wie Atenolol (Tenormin® u.a.) oder mit einem ACE-Hemmer wie Captopril (Lopirin® u.a.) behandelt werden.(1) Von Bedeutung ist aber, dass der Blutdruck genügend gesenkt wird.

Die Frage «Welches Medikament?» oder allenfalls «Welche nicht-medikamentöse Therapie?» kann also in den meisten Fällen nicht ideal auf Einzelpersonen abgestimmt werden. Sicher gilt es, individuelle Gegebenheiten zu berücksichtigen. Die Antwort kommt jedoch in erster Linie aus unserem Wissen über die gesamten Eigenschaften der möglichen Therapien. Mit anderen Worten: wir müssen versuchen, die vorhandenen therapeutischen Optionen möglichst genau zu vergleichen und dann die beste Option auszuwählen. Die Notwendigkeit eines solchen Vergleichs ergibt sich sowohl in der täglichen Praxis als auch dann, wenn für ein eingeschränktes Arzneimittelsortiment (z.B. in einer Therapiekonsensgruppe) eine sinnvolle Auswahl geschehen soll. Dass die Beschränkung des Arzneimittelsortimentes für eine rationale Pharmakotherapie von erstrangiger Bedeutung ist, habe ich ja schon wiederholt dargestellt.(2,3) Da sich die Pharmakotherapie aber ständig weiterentwickelt, stellt sich die Frage nach der richtigen Therapiewahl immer wieder neu.

Wie lässt sich entscheiden, ob ein Medikament nicht mehr verwendet werden sollte - weil es bessere Alternativen gibt - oder ob ein neues Medikament in unser Arsenal aufgenommen werden sollte? Dies war die Frage, die ich mir stellte, als ich zu einem Vortrag über obsolete Arzneimittel eingeladen wurde. Oft werden wir ja bei solchen Überlegungen nicht nur von Tatsachen, sondern auch von irrationalen Elementen beeinflusst - die Marketingabteilungen der Industrie lassen grüssen. Es ist daher sehr wichtig, dass wir einheitliche Beurteilungskriterien entwickeln. Ich habe versucht, ein verhältnismässig einfaches Beurteilungsverfahren zu entwickeln, das sich gut auf die verschiedensten therapeutischen Alternativen (auch nicht-medikamentöser Natur) anwenden lässt. In Anbetracht des allgemeinen Interesses der Frage möchte ich dieses Modell gerne auch hier vorstellen.

Vorauszuschicken ist, dass nicht einfach zwei verschiedene Medikamente oder zwei verschiedene Therapien global verglichen werden können. Vielmehr sollen therapeutische Alternativen für eine bestimmte Indikation verglichen werden. Es ist ja ohne weiteres möglich, dass eine Substanz bei der einen Indikation das Mittel der Wahl darstellt, bei einer anderen jedoch ungenügend wirkt. Damit ferner der Vergleich wirklich Sinn macht, müssen die geprüften Alternativen für die Behandlung dieser Indikation anerkannt sein. So ist es zum Beispiel nicht sinnvoll, ACE-Hemmer und Angiotensin-Rezeptorantagonisten in der Behandlung der Herzinsuffizienz zu vergleichen, solange die letztere Medikamentengruppe noch über keinen genügenden Wirkungsnachweis bei dieser Indikation verfügt. Die hier vorgeschlagene Methode lässt sich jedoch auf die verschiedensten therapeutischen Situationen anwenden, sofern entsprechende Daten überhaupt vorhanden sind. In der Regel soll der Vergleich immer zwischen zwei konkret umschriebenen Optionen (z.B. zwischen zwei Antihypertensiva) erfolgen. Die allgemeinen Prinzipien sind in der Tabelle 1 zusammengefasst.

Die Punktewertung dient dazu, zu entscheiden, ob die geprüfte Option weiterhin verwendet werden soll. Mit anderen Worten: es handelt sich primär um einen einseitigen Vergleich, der nur Auskunft über die eine Option vermittelt. In diesem Modell können in einem Vergleich maximal 9 Punkte erreicht werden. In Vergleichen, in denen total nur 1 oder 2 Punkte erreicht werden, drängt es sich nicht auf, die eine durch die andere Behandlung zu ersetzen. Werden aber 3 und mehr Punkte erreicht, so ist anzunehmen, dass die unterlegene Behandlungsoption nicht mehr optimal ist. Beträgt der Unterschied 5 oder mehr Punkte, so muss vermutet werden, dass die unterlegene Option vermieden werden sollte und allenfalls obsolet wird. Wie die Methode im einzelnen funktioniert, soll hier an ein paar Beispielen demonstriert werden. Lautet die Frage, ob Digoxin bei einer Herzinsuffizienz ohne Vorhofflimmern als erstes Medikament eingesetzt werden soll, so kann es bekanntlich mit Diuretika, mit ACE-Hemmern und auch mit Betablockern verglichen werden. Es gibt heute überzeugende Daten, die zeigen, dass für die untersuchte Situation die ACE-Hemmer überlegen sind (3 Punkte für die ACE-Hemmer). Zudem ist eine Behandlung mit ACE-Hemmern eindeutig mit weniger Risiken verbunden (2 Punkte für die ACE-Hemmer). Keine Punkte für die ACE-Hemmer ergeben sich dagegen aus der Beurteilung der praktischen Aspekte und der Kosten. Gesamthaft resultieren 5 Punkte zu Ungunsten von Digoxin. Bei einer Herzinsuffizienz ohne Vorhofflimmern wird also initial besser nicht mit Digoxin behandelt. Anders sieht es allerdings aus, wenn Digoxin als zweites oder drittes Medikament zur Behandlung der Herzinsuffizienz herbeigezogen werden soll oder wenn auch ein Vorhofflimmern vorliegt.

Soll darüber entschieden werden, ob Penicillin bei einer Streptokokken-Angina immer noch adäquat ist, so ist das altbewährte Mittel mit neueren Antibiotika zu vergleichen. Ein überzeugender Nachweis einer überlegenen Wirksamkeit neuerer Antibiotika liegt nicht vor. Ob neuere Antibiotika weniger unerwünschte Wirkungen oder Resistenzprobleme verursachen, ist nicht nachgewiesen. Sicher sind einzelne der heute verfügbaren Antibiotika in der Praxis einfacher in der Anwendung (besonders bei Kindern). Ob dies jedoch entscheidend zum Behandlungserfolg beiträgt, ist nicht gesichert (1 Punkt für die neueren Antibiotika). Billiger als Penicillin sind die neuen Präparate allerdings nicht. Im ganzen ist also nur 1 Punkt zu Ungunsten von Penicillin festzustellen. Das bedeutet, dass Penicillin auch heute noch eine gute Wahl bei Streptokokken-Angina darstellt.

Wie vor kurzem in pharma-kritik dargestellt, steht heute auch der Stellenwert von unfraktioniertem Heparin zur Diskussion.(4) Sollte heute in der perioperativen Thromboseprophylaxe den niedermolekularen Heparinen (NMH) der Vorzug gegeben werden? Was die Wirksamkeit der beiden Optionen anbelangt, so ist festzustellen, dass doch einige (aber nicht alle) Studien eine bessere Wirksamkeit der NMH zeigen. Volle 3 Punkte ist dies vielleicht nicht wert, aber möglicherweise 1 oder 2. Die Verträglichkeit der beiden zur Diskussion stehenden Heparinarten ist wohl ungefähr dieselbe. Dagegen sind die NMH wesentlich praktischer in der Anwendung, da sie einfach ein- bis zweimal täglich subkutan gespritzt werden können (2 Punkte für die NMH). Schliesslich ist auch die Behandlung mit den neueren Heparinen kostengünstiger, da sie nicht notwendigerweise mit einer Hospitalisation verbunden ist (1 bis 2 Punkte für die NMH). Es ergibt sich eine Summe von mindestens 5 Punkten zu Ungunsten von unfraktioniertem Heparin - dieses wird also für die Thromboseprophylaxe mit Vorteil durch ein NMH ersetzt.

Nur wenn es uns gelingt, unsere therapeutischen Entscheide sorgfältig zu begründen, werden wir optimal und ökonomisch sinnvoll behandeln. Das vorgelegte Modell erhebt nicht den Anspruch, die beste Beurteilungsmethode darzustellen. Es könnte sich als Basis einer alltagstauglichen Bewertung eignen. Für Verbesserungsvorschläge bin ich dankbar.

Literatur

  1. 1) UK Prospective Diabetes Study Group. Br Med J 1998; 317: 713-20
  2. 2) Gysling E, Kochen M. pharma-kritik 1987; 9: 1-4
  3. 3) Gysling E. pharma-kritik 1995; 17: 63-4
  4. 4) Koch T. pharma-kritik 1998; 20: 13-6

Standpunkte und Meinungen

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Verschreibe ich optimal? (15. Februar 1999)
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pharma-kritik, 20/No. 06
PK362
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