Vitamin E

Synopsis

Heute wird oft empfohlen, Vitamin-E-Supplemente einzunehmen. Wie gut ist die Evidenz, dass sich hohe Dosen dieses Vitamins gesundheitlich vorteilhaft auswirken?

Vitamin E gehört zur Gruppe der fettlöslichen Vitamine. Reich an Vitamin E sind pflanzliche Öle, Nüsse, Sojabohnen und Getreideprodukte. Es kommt in der Natur in verschiedenen stereoisomeren Formen vor. D-a-Tocopherol (Synonym: RRR-a-Tocopherol) ist dabei das häufigste und biologisch aktivste Stereoisomer. Synthetisch hergestelltes Vitamin E (Ephynal® u.a.) ist ein Razemat aus 8 Stereoisomeren in äquivalenter Menge (DL-a-Tocopherol; Synonym: all-rac-a-Tocopherol). Übliche Masseinheiten sind Milligramm und Internationale Einheiten (IE). 1 mg des synthetisch hergestellten DL-a-Tocopherolazetat entspricht 1 IE und 1 mg des natürlich vorkommenden D-a-Tocopherol entspricht 1,49 IE. In den USA wird empfohlen, Kinder (ab 4 Jahren) und Erwachsene sollten sich täglich 30 IE Vitamin E zuführen.

Die genaue Bedeutung von Vitamin E im menschlichen Organismus ist noch nicht völlig geklärt. Es ist aber anzunehmen, dass seiner antioxidativen Wirkung die grösste Bedeutung zukommt. Die Voraussetzung für die optimale Resorption von fettlöslichen Vitaminen ist die Anwesenheit von Galle im Darm. Erworbene Vitamin-E-Mangelerscheinungen treten z.B. bei intrahepatischer Cholestase oder beim Malabsorptionssyndrom auf. Dabei werden klinisch meistens neurologische Symptome (Muskelschwäche, Areflexie und Gangstörungen) beobachtet.

Unerwünschte Wirkungen von Vitamin E treten selten und erst bei hohen Dosen auf. Am häufigsten sind gastrointestinale Beschwerden, Brechreiz und Kopfschmerzen. Bei langdauernder Verabreichung von hohen Vitamin-E-Dosen kann sich ein Vitamin K-Antagonismus mit Blutungsneigung manifestieren. Dies ist auch bei der Behandlung mit oralen Antikoagulantien zu beachten.

In vielen experimentellen Studien konnte gezeigt werden, dass a-Tocopherol die Oxidation von Lipoproteinen niedriger Dichte («Low Density Lipoproteins» = LDL) hemmt. Oxidierte LDL sind ein wichtiger Faktor in der Pathogenese der Atherosklerose. Es wurde postuliert, dass durch eine vermehrte Vitamin E-Zufuhr das Fortschreiten von Gefässerkrankungen verlangsamt werden könne. Aus diesem Grunde wurde die Auswirkung von Vitamin E-Supplementen insbesondere bei der koronaren Herzkrankheit geprüft.

Koronare Herzkrankheit

In zwei amerikanischen Kohortenstudien ergab sich die Vermutung, dass die Einnahme von Vitamin-E-Supplementen das koronare Risiko senkt:

Die eine Studie umfasste etwa 40'000 Männer aus medizinischen Berufen. Von diesen nahmen etwa 6000 Supplemente ein, die wenigstens 100 IE Vitamin E enthielten. In dieser Gruppe war das Risiko, an einem Herzinfarkt zu erkranken, signifikant reduziert. Für Männer, die die erwähnte Dosis während mindestens 2 Jahren einnahmen, war das koronare Risiko gegenüber denjenigen, die keine Vitamin-E-Supplemente nahmen, um 37% niedriger.(1)

Eine ähnliche Studie bei rund 90'000 Krankenschwestern ergab ein analoges Resultat: Frauen, die während mindestens 2 Jahren Vitamin-E-Supplemente einnahmen, hatten ein reduziertes Herzinfarkt-Risiko.(2)

In einer weiteren Kohortenstudie bei etwa 11'000 Personen über 67 Jahren hatten diejenigen, welche Vitamin-E-Supplemente einnahmen, scheinbar deutliche Vorteile: im Vergleich mit Personen, die keinerlei Vitamin-Supplemente nahmen, war ihre koronare und gesamte Mortalität stark reduziert.(3)

Ausserdem liess die nachträgliche Analyse einer Untergruppe einer anderen Studie, in der in erster Linie die Wirkung von lipidsenkenden Medikamenten untersucht wurde, ebenfalls auf eine günstige Wirkung von Vitamin E schliessen: Bei 29 Männern, die täglich Vitamin E in einer Dosis von 100 IE oder mehr nahmen, fand sich in nach 2 Jahren wiederholten Koronarangiographien eine signifikant geringere Progression koronarer Läsionen als bei 127 Patienten, die weniger oder kein zusätzliches Vitamin E einnahmen.(4)

Wesentlich weniger beeindruckend sind die Resultate randomisierter Studien:
In der «Cambridge Heart Antioxidant Study» erhielten 2000 Personen (15% Frauen) mit angiographisch nachgewiesener Koronarkrankheit doppelblind entweder D-a-Tocopherol (Kapseln mit Sojaöl) oder Placebo. Zu Beginn der Studie betrug die verwendete Tagesdosis 800 IE a-Tocopherol. Später, für etwa die Hälfte der Behandelten, wurde die Vitamin-E-Dosis auf 400 IE täglich reduziert. Während einer medianen Beobachtungszeit von 510 Tagen hatten in der Vitamin-E-Gruppe nur 14, in der Placebo-Gruppe jedoch 41 Personen einen nicht-tödlichen Herzinfarkt, ein hochsignifikanter Unterschied. Die kardiovaskuläre und die gesamte Mortalität war dagegen in der Vitamin-E-Gruppe (nicht-signifikant) höher als in der Placebo-Gruppe. In der Vitamin-E-Gruppe starben insgesamt 36, in der Placebo-Gruppe 27.(5)

In einer grossen finnischen Doppelblindstudie (ATBC-Studie) erhielten Raucher DL-a-Tocopherol (50 IE/Tag), b-Carotin (20 mg/Tag), beide Vitamine kombiniert oder Placebo. In einem Teil dieser Studie wurden 1'862 Raucher erfasst, die einen Herzinfarkt durchgemacht hatten. Die mediane Beobachtungszeit betrug etwas mehr als 5 Jahre. Es ereigneten sich insgesamt 424 koronare Ereignisse (Infarkt-Rezidive), 234 davon führten zum Tode. Zwischen den vier verschiedenen Gruppen ergaben sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Gesamtzahl an Herzinfarkten. Koronare Todesfälle waren in der Placebo-Gruppe mit 39 Fällen weniger häufig als in den anderen Gruppen; der Unterschied gegenüber der b-Carotin-Gruppe (74 Todesfälle) und der kombiniert behandelten Gruppe (67 Todesfälle) ist signifikant.(6)

Alzheimer-Krankheit

In einer multizentrischen Doppelblindstudie bei 341 Alzheimer-Kranken wurde DL-a-Tocopherol mit Selegilin (Jumexal®) und Placebo verglichen. Vier ungefähr gleich grosse Gruppen erhielten täglich 2mal 1000 IE DL-a-Tocopherol oder 2mal 5 mg Selegilin oder beide Medikamente kombiniert bzw. Placebo. Die Behandlung wurde zwei Jahre lang durchgeführt. Die wichtigsten Endpunkte waren Tod, Pflegeheimeinweisung, Verlust der Fähigkeit zur Verrichtung von Alltagsaufgaben und ein hoher Demenzgrad. Nach diesen Kriterien ergaben sich primär keine signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen. Die mediane Überlebenszeit betrug unter Placebo knapp 18 Monate; unter aktiver Therapie war sie (nicht-signifikant länger) 19 bis 21 Monate. Aus der Gruppe, die Vitamin E allein erhielt, mussten weniger Kranke in ein Pflegeheim eingewiesen werden (26%) als z.B. aus der Placebo-Gruppe (39%). Nur wenn der mittels «Mini Mental State Examination» initial festgestellte Demenzgrad miteinbezogen wurde, konnte für die mit Vitamin E oder Selegilin Behandelten ein signifikanter Vorteil errechnet werden.(7)

Neuroleptika-bedingte Spätdyskinesie

In einer kleinen Doppelblindstudie wurden 35 Patienten mit Neuroleptika-bedingter Spätdyskinesie für zwei Monate randomisiert mit täglich 800 IE Vitamin E oder Placebo behandelt. In der Vitamin-E-Gruppe fand sich gegenüber dem Ausgangsbefund eine Besserung der extrapyramidal-motorischen Störungen; im Vergleich mit der Placebo-Gruppe konnte jedoch kein signifikanter Unterschied festgestellt werden.(8)

In einer Metaanalyse wurden 12 Doppelblindstudien ausgewertet, in denen insgesamt 223 Patienten mit Spätdyskinesie Vitamin E in Tagesdosen zwischen 400 und 1'600 IE verabreicht worden war. Bei knapp 30% der Behandelten konnte eine gewisse Besserung erreicht werden.(9)

Prostatakarzinom

In der bereits erwähnten finnischen ATBC-Studie, die insgesamt fast 30'000 Raucher umfasste, wurde auch der Einfluss von Vitamin E auf die Inzidenz von Prostatakarzinomen untersucht. Etwa die Hälfte der Teilnehmer erhielt täglich 50 IE DL-a-Tocopherol. Die mediane Beobachtungszeit betrug rund 6 Jahre. In diesem Zeitraum hatten die mit Vitamin E Behandelten ein Drittel weniger klinisch manifeste Prostatakarzinome als die Männer, die kein Vitamin E erhielten. Auch die Prostatakarzinom-Mortalität war unter Vitamin E um 41% geringer als bei den Männern, die das Vitamin nicht erhielten.(10)

Gelenkerkrankungen

In einer Doppelblindstudie wurden 42 Patienten mit rheumatoider Arthritis zusätzlich zu ihrer antirheumatischen Therapie während 12 Wochen mit Vitamin E (2mal 600 IE/Tag) oder Placebo behandelt. Entzündungszeichen (Labor und Klinik) wurden von Vitamin E nicht beeinflusst, hingegen hatten die Personen in der Vitamin-E-Gruppe etwas weniger Schmerzen.(11)

In einer weiteren Doppelblindstudie war Vitamin E (1800 IE/Tag) bei 85 Kranken mit rheumatoider Arthritis scheinbar ähnlich wirksam wie Diclofenac (Voltaren® u.a.).(12)

Bei 50 Personen mit aktivierter Arthrose wurde Vitamin E (400 IE/Tag) doppelblind mit Placebo verglichen. Die Vitamin-Behandlung während 6 Wochen ergab eine signifikant bessere Wirkung auf die Schmerzen als Placebo.(13)

Weitere Studien

In einer grossen randomisierten Multizenterstudie (DATATOP-Studie), die 800 Personen mit einem frühen Stadium einer Parkinson-Krankheit umfasste, konnte keine Wirkung von Vitamin E (2000 IE DL-a-Tocopherol täglich) nachgewiesen werden.(14)

In der bereits mehrfach erwähnten ATBC-Studie wurden die Daten zusätzlich im Hinblick auf Kataraktoperationen analysiert. Raucher, die Vitamin-E-Supplemente einnahmen, mussten sich gleich häufig einer Kataraktoperation unterziehen wie jene, die kein Vitamin E erhielten.

Schlussfolgerungen

Die bisher vorliegenden Daten zu Vitamin E lassen noch viele Fragen offen. Wohl gibt es Hinweise auf einen möglichen Nutzen im kardiovaskulären Bereich, vielleicht auch bei weiteren Erkrankungen. Diese beruhen aber zum Teil auf Studien mit beschränkter Aussagekraft. Dass die kardiovaskuläre Mortalität in den randomisierten Studien unter Vitamin E höher war als in den Vergleichsgruppen, stimmt nachdenklich.

Da in den Studien sehr unterschiedliche Dosierungen verwendet wurden (zwischen 50 und 2000 IE täglich), ist praktisch keine vernünftige Aussage zu einer allenfalls wünschenswerten Tagesdosis möglich.

Weitere, gute Studien sind notwendig, insbesondere bei koronarer Herzkrankheit. Mehr Klarheit ist auch erwünscht im Zusammenhang mit den Befunden zu neurologischen Erkrankungen, Prostatakarzinom und Gelenkleiden.

Was sich nach heutigem Wissen mit Änderungen der Lebensweise (Nichtrauchen, gemüse- und früchtereiche Ernährung, genügend körperliche Aktivität) erreichen lässt, übertrifft einen allfälligen Vitamin-E-Nutzen wahrscheinlich bei weitem. Eine routinemässige Verabreichung von Vitamin-E-Supplementen kann zurzeit nicht empfohlen werden.

Literatur

  1. 1) Rimm EB et al. N Engl J Med 1993; 328: 1450-6
  2. 2) Stampfer MJ et al. N Engl J Med 1993; 328: 1444-9
  3. 3) Losonczy KG et al. Am J Nutr 1996; 64: 190-6
  4. 4) Hodis HN et al. JAMA 1995; 273: 1849-54
  5. 5) Stephens NG et al. Lancet 1996; 347: 781-6
  6. 6) Rapola JM et al. Lancet 1997; 349: 1715-20
  7. 7) Sano M et al. N Engl J Med 1997; 336: 1216-22
  8. 8) Lohr JB, Caligiuri MP. J Clin Psychiatry 1996; 57: 167-73
  9. 9) Barak Y et al. Ann Clin Psychiatry 1998; 10: 101-5
  10. 10) Heinonen OP et al. J Natl Cancer Inst 1998; 18: 440-6
  11. 11) Edmonds SE et al. Ann Rheum Dis 1997; 56: 649-55
  12. 12) Wittenborg A et al. Z Rheumatol 1998; 57: 215-21
  13. 13) Blankenhorn G. Z Orthop 1986; 124: 340-3
  14. 14) The Parkinson Study Group. N Engl J Med 1993; 328: 176-83
  15. 15) Teikari JM et al. J Epidemiol Community Health 1998; 52: 468-72

Standpunkte und Meinungen

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Vitamin E (8. März 1999)
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