Hormone nach der Menopause: Wieviel Nutzen? Wieviel Schaden?
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 17
, Nummer 04, PK419
Redaktionsschluss: 26. September 1995 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Lang ist es her, ich war noch ein Mittelschüler, da erhielt meine Mutter wegen postmenopausaler Beschwerden Hormone. Diese Behandlung hatte damals noch einen gewissen Exklusivitätswert und wurde nicht vom Hausarzt, sondern ausschliesslich von Fachleuten der Universitätsklinik verordnet und überwacht. Ich weiss nicht genau, wie erfolgreich die Behandlung war. Immerhin wurde sie - wenn ich mich recht erinnere - während mehreren Jahren durchgeführt. Ich muss also annehmen, dass die gewünschte Wirkung mindestens teilweise erreicht wurde. Noch bevor ich die Hälfte meines Medizinstudiums absolviert hatte, starb meine Mutter, an Brustkrebs. Ich glaube nicht, dass damals jemand einen Zusammenhang zwischen den verabreichten Hormonen und der tödlichen Krebserkrankung sah. Unsere Familie lebte - wie zu jener Zeit wohl die meisten - in der Überzeugung, die moderne Medizin bringe so viel Gutes, dass allfällige negative Seiten von geringer Bedeutung wären, und der Gedanke an iatrogene Schäden lag fern. Seither hat sich das Blatt gewendet. Der unbekümmerte Fortschrittsglaube ist von einer Skepsis abgelöst worden, die uns Ärzten oft Mühe macht.
Ich weiss: Anekdoten haben wissenschaftlich praktisch keine Aussagekraft. Ich bin auch gewiss der letzte, der behaupten würde, eine Einzelbeobachtung der soeben beschriebenen Art könnte uns helfen, die beste, die richtige Behandlung zu finden. Man kann wohl kaum genug betonen, wie wichtig es ist, unsere Behandlungsmethoden einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dies gilt selbstverständlich auch für die unerwünschten Wirkungen. Konkret heisst dies, dass aus einem Einzelfall, in dem nach einer Hormonbehandlung ein Mammakarzinom aufgetreten ist, nie und nimmer ein Zusammenhang im Sinne von Ursache und Wirkung abgeleitet werden darf.
Einzelbeobachtungen sind aber keineswegs wertlos, sondern geradezu von eminenter Bedeutung, wenn es gilt, Denkanstösse, Hypothesen für die klinische Forschung zu finden. Spektakuläre Erfolge und eklatante Misserfolge, die wir selbstelbst erlebt haben, prägen zudem unser Denken und Handeln in ganz anderer Art und Weise als Daten, die uns auf dem Papier oder auf dem Bildschirm mitgeteilt werden. Ein guter Teil der ärztlichen Kunst beruht wohl auf der Fähigkeit, persönlich erworbene Erfahrung in wissenschaftlich gesicherte, kollektiv erworbene Kenntnisse zu integrieren.
In der langen Zeit, die seit dem Tod meiner Mutter vergangen ist, haben viele Millionen von Frauen nach der Menopause Hormone erhalten. Im Jahre 1995 wissen wir aber immer noch nicht recht, ob diese Hormonsubstitution nicht ein - im Verhältnis zum Hormonnutzen - zu grosses Brustkrebsrisiko darstellt. In einem soeben erschienenen Editorial(1) sind dazu einige Fakten zusammengestellt: Neuere Studienresultate lassen vermuten, dass eine postmenopausale Hormonsubstitution, die länger als fünf Jahre dauert, das Brustkrebsrisiko um etwa 50% ansteigen lässt. Bei Frauen über 60 ist dieses Risiko noch etwas höher. Die Annahme, eine kombinierte Östrogen-Gestagen-Behandlung bringe ein geringeres Brustkrebsrisiko mit sich als eine Östrogen-Monotherapie, scheint nicht zuzutreffen.
Schlimmer noch, wir haben auch kein gesichertes Wissen über die verschiedenen erwünschten Wirkungen der postmenopausal verabreichten Hormone. Alles, was wir darüber wissen, beruht im wesentlichen auf retrospektiven Fall-Kontroll- oder Kohorten-Studien und einigen Untersuchungen zu Auswirkungen auf Risikofaktoren. Dass methodologisch adäquate prospektive Studien erst jetzt, nach mehreren Jahrzehnten der Hormonanwendung, durchgeführt werden, ist eigentlich beschämend. Dass heute viele Fachleute eine postmenopausale Hormonsubstitution so vehement vertreten, ist angesichts der vorläufig vergleichsweise bescheidenen Wissensbasis auch nicht sehr erfreulich.
Was retrospektive Studien taugen, lässt sich anhand der zur Zeit aktuellen Diskussion über Nutzen und Schaden von Kalziumantagonisten recht gut ablesen. So schreibt z.B. ein englischer klinischer Pharmakologe: «Schlussfolgerungen auf die Wirksamkeit von Medikamenten aus retrospektiven Vergleichen zwischen Medikamenten oder Studien zu ziehen, ist etwa gleich zuverlässig wie die Diagnose eines Hirntumors aus einem gewöhnlichen Schädelröntgenbild - billig, veraltet und meistens falsch.»(2) Es ist bemerkenswert, in wie hohem Masse sich alle Fachleute einig sind, retrospektive Studien würden höchstens den Verdacht auf eine Schädlichkeit von Kalziumantagonisten wie Nifedipin (Adalat® u.a.) erwecken, seien aber keineswegs als Nachweis einer negativen Wirkung zu werten. Auf die postmenopausale Hormonsubstitution übertragen, bedeutet dies, dass zwar der berechtigte «Verdacht» besteht, dass sich die Hormone gesamthaft günstig für die behandelte Frau auswirken könnten. Es handelt sich aber auch heute noch um eine Hypothese, deren Prüfung noch einige Jahre beanspruchen wird (d.h. bis zum Abschluss der jetzt laufenden prospektiven Studien). An dieser Tatsache ändern auch die günstig aussehenden Resultate von Studien, in denen «Surrogat-Marker» (Lipidwerte, Knochendichte) untersucht wurden, nichts.
Wie sollen wir uns aber verhalten, bis verlässliche Daten vorliegen? Der Plan einer pharma-kritik-Nummer zum Thema «Hormonsubstitution» existiert seit mehreren Jahren. Mindestens zwei pharma-kritik-Assistenten haben sich intensiv um eine solche Übersicht bemüht; ihre Arbeit ist auf dem allmählich grösser werdenden Berg der «noch nicht publizierbaren Arbeiten» gelandet. Der Grund für das Warten war mein Unbehagen über die unbefriedigende Datenlage. Nun habe ich selbst eine Übersicht zusammengestellt, in der ich versuche, auf die wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit der postmenopausalen Hormonsubstitution einzugehen. Eine Reihe von Fachleuten ist eingeladen, sich dazu zu äussern. Sobald die Stellungnahmen vorliegen, werden wir den Text publizieren. Ich hoffe, dass wir so ein wenig zur Klärung der drängenden Fragen beitragen können.
Literatur
- 1) McPherson K. Br Med J 1995; 311: 699-700
- 2) Brown MJ. Lancet 1995; 346: 768-9
Standpunkte und Meinungen
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