Acamprosat
- pharma-kritik-Jahrgang 17
, Nummer 16, PK446
Redaktionsschluss: 11. Mai 1996 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Acamprosat (Campral®) wird zur Aufrechterhaltung der Alkoholabstinenz nach erfolgter Entzugsbehandlung empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Acamprosat ist das Kalziumsalz von Acetylhomotaurin. Es ist mit den im Gehirn aktiven Neurotransmitter-Aminosäuren gamma-Aminobuttersäure (GABA) und Glutamat sowie mit Taurin verwandt. Es ist nicht geklärt, worauf seine Wirkung beruht. Durch chronischen Alkoholkonsum kommt es zu einer neuronalen Adaptation, die unter anderem durch ein gestörtes Gleichgewicht zwischen exzitatorischen Neurotransmittern wie Glutamat und inhibitorischen Neurotransmittern wie GABA gekennzeichnet ist. Dieses Ungleichgewicht ist wahrscheinlich für Erregungszustände bei Alkoholentzug verantwortlich. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass Acamprosat die neuronale Übererregbarkeit durch Beeinflussung der Transmitter reduziert.
Auf der psychologischen Ebene soll Acamprosat das süchtige Verlangen der abhängigen Person - das «Craving» - bekämpfen. Acamprosat hat also einen anderen Wirkungsmechanismus als die bisher bekannten Medikamente zur Behandlung des Alkoholentzugs.(1)
In einem Tierexperiment wurden Ratten durch Alkohol-Verabreichung über eine Magensonde alkoholabhängig gemacht. Nach Absetzen der forcierten Alkoholverabreichung erhielten die Ratten während acht Tagen alle acht Stunden abwechslungsweise gewöhnliches Wasser oder eine 10%ige Alkohollösung angeboten. Am dritten und vierten Tag dieses Regimes wurden ihnen mittels Magensonde hohe Acamprosat-Dosen (150 bis 450 mg/kg) verabreicht. Im Vergleich mit Ratten, die nur Kochsalzlösung erhielten, tranken die Acamprosat-behandelten Ratten spontan signifikant weniger Alkohollösung. Dieser Effekt liess sich noch vier Tage nach der Acamprosat-Gabe beobachten.(2)
Ebenfalls im Tierversuch fand sich, dass Acamprosat den Blutalkoholspiegel nicht beeinflusst. (3)
Pharmakokinetik
Es gibt praktisch keine publizierten Daten zur Kinetik. Nach Angaben der Herstellerfirma variiert die Resorption im Einzelfall beträchtlich. Im Durchschnitt wird das Medikament langsam resorbiert: nach Verabreichung einer Einzeldosis werden erst nach gut 5 Stunden maximale Plasmaspiegel erreicht. Die mittlere biologische Verfügbarkeit beträgt rund 10%. Acamprosat wird nicht metabolisiert, der grösste Teil wird unverändert mit dem Urin ausgeschieden. Bei einer Tagesdosis von 2 g ist nach 7 Tagen ein Fliessgleichgewicht zwischen Einnahme und Ausscheidung erreicht; die Halbwertszeit beträgt dann etwa 20 Stunden. Da über 90% einer Dosis durch die Nieren ausgeschieden werden, ist Acamprosat bei Niereninsuffizienz kontraindiziert. Da das Medikament anderseits von der Leber nicht metabolisiert wird, kann es auch bei Personen mit Leberfunktionsstörungen angewendet werden.
Klinische Studien
Acamprosat ist in mehreren Doppelblindstudien mit Placebo verglichen worden. In diese Studien wurden nur Personen mit gut dokumentiertem, ausgeprägtem Alkoholabusus aufgenommen (täglicher Alkoholkonsum über 100 g); alle Studien begannen nach einem geplanten (teilweise stationär durchgeführten) Entzug. Als wichtige biologische Kriterien galten eine erhöhte Gamma-Glutamyl-Transpeptidase (gamma-GT) und ein erhöhtes mittleres Ery-throzyten-Volumen (MCV). In einzelnen Studien wurden weitere Anzeichen der Alkoholabhängigkeit wie morgendliches Entzugssyndrom, psychologische Abhängigkeit oder die Anamnese eines Delirium tremens gefordert. Personen mit anderen schweren körperlichen oder psychiatrischen Erkrankungen wurden jedoch ausgeschlossen.
Eine frühe Doppelblindstudie umfasste 85 schwer alkoholkranke Patienten (Alkoholkonsum über 200 g/Tag), die einen stationären Entzug hinter sich hatten. Sie erhielten während drei Monaten Acamprosat (25 mg/kg/Tag) oder Placebo. Als zusätzliches Medikament war Meprobamat (Meprodil®) in einer Dosis von 800 bis 1200 mg/Tag erlaubt. Zur Behandlung von Alkoholfolgeschäden wurde Thiamin (Vitamin B
In einer grossen Multizenterstudie wurden in erster Linie die Veränderungen der gamma-GT als Mass des aktuellen Alkoholkonsums untersucht. Von 569 Alkoholkranken, die doppelblind Acamprosat (1,3 g/Tag) oder Placebo erhielten, beendeten allerdings rund 35% die dreimonatige Studie vorzeitig. Da in den verschiedenen Zentren unterschiedliche Bestimmungsmethoden für die gamma-GT verwendet wurden, galt der oberste Normwert im jeweiligen Zentrum als Mass. Nach drei Monaten betrugen die gamma-GT-Werte in der Acamprosat-Gruppe (181 Personen) durchschnittlich das 1,4-fache des obersten Normwerts, in der Placebo-Gruppe (175 Personen) war dieser Wert signifikant höher (das 2,0-fache). In dieser Studie wurde nicht systematisch untersucht, ob sich die Beteiligten abstinent verhielten.
Zwei Studien wurden nach einem weitgehend identischen Studienplan durchgeführt: In Abhängigkeit vom Körpergewicht erhielten die Behandelten entweder 1,3 g oder 2,0 g Acamprosat täglich bzw. Placebo. Die Behandlungsdauer betrug hier sechs Monate und die Beteiligten wurden anschliessend noch für weitere sechs Monate (ohne Acamprosat) beobachtet. Die grössere dieser beiden Studien wurde in Italien, die kleinere in der Schweiz durchgeführt. In beiden Studien wurde im ersten Behandlungsmonat mit Acamprosat ein ausgezeichnetes Resultat erreicht; im späteren Verlauf ging allerdings ein beträchtlicher Teil des Erfolges verloren. Die italienische Studie, die 246 Personen umfasste, ergab aber nach sechs Monaten in der Acamprosat-Gruppe immerhin einen Abstinenten-Anteil von fast 50%, während nur etwa ein Drittel der mit Placebo behandelten Personen abstinent blieb.
In der längsten bisher publizierten Doppelblindstudie wurde während eines ganzen Jahres behandelt. 538 Alkoholkranke wurden randomisiert drei Gruppen zugeteilt: in der einen erhielten die Patienten 1,3 g Acamprosat täglich, in der zweiten 2,0 g täglich und in der dritten Placebo. Die höhere Dosis erwies sich über den Zeitraum von sechs Monaten als signifikant wirksamer als die niedrigere Dosis und als Placebo. Nach 12 Monaten erreichte der Vorteil der mit hohen Acamprosat-Dosen Behandelten keine statistische Signifikanz mehr.
Unerwüschte Wirkungen
Acamprosat verursacht verhältnismässig häufig Durchfall: zwischen 10 und 15% der Behandelten berichten über diese Nebenwirkung. Ausserdem wurden Brechreiz/Erbrechen, Konfusion, Schlafstörungen und Juckreiz beobachtet, doch sind hier die Unterschiede zu Placebo-behandelten Personen nicht signifikant. Es ist offensichtlich, dass viele Symptome auch Folgen des Alkoholentzugs sein können und deshalb nicht einfach dem Medikament zugeschrieben werden müssen. In einem Einzelfall wurde Acamprosat als Ursache eines Erythema multiforme vermutet.(9) In der oben erwähnten Schweizer Studie traten vier Todesfälle auf (je zwei in der Acamprosat- und der Placebogruppe); ein Zusammenhang mit dem aktiven Medikament ist unwahrscheinlich.(7)
Der Einfluss von Acamprosat auf andere, im Zusammenhang mit dem Alkoholentzug verabreichte Medikamente wurde in einer grossen Multizenterstudie untersucht. Neben Acamprosat (1,3 g/Tag) und B-Vitaminen wurden die Patienten mit Tetrabamat (Atrium®) oder Meprobamat (Meprodil®) oder Oxazepam (Seresta® u.a.) behandelt. Eine weitere Gruppe erhielt ausschliesslich Acamprosat (und Vitamine). 536 der 591 initial Behandelten schlossen die Studie nach 15 Tagen planmässig ab. Personen, die nur Acamprosat erhielten, beklagten sich über deutlich mehr Beschwerden, die dem akuten Alkoholentzug zugeordnet werden können. Gemäss dieser Untersuchung kann Acamprosat ohne weiteres gleichzeitig mit einem der im akuten Entzug verwendeten Sedativa verschrieben werden.(10)
Ob Acamprosat ein Suchtpotential zukommt, ist nicht systematisch untersucht worden. Die vorliegenden klinischen Studien ergaben diesbezüglich keine Hinweise. Nach Angaben des Herstellers scheint Acamprosat im Gegensatz zu Benzodiazepinen oder anderen sedierenden Medikamenten die Fahrtüchtigkeit nicht zu beeinträchtigen.
Zwei Fälle eines Suizidversuches mit Acamprosat sind bekannt; in beiden Fällen konnten die Patienten mit einer Magenspülung problemlos behandelt werden.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Acamprosat (Campral®) ist als Tabletten zu 300 mg (= 333 mg Diacamprosat-Kalzium) erhältlich. Das Medikament ist in der Schweiz bisher nicht kassenzulässig. Auf Grund der vorliegenden Studien wird empfohlen, die Therapie nach etwa fünf Tagen Abstinenz zu beginnen und sie über einen Zeitraum von 6 bis 12 Monaten fortzuführen. Bei einem allfälligen Rückfall kann nach erfolgter Entgiftung die Behandlung weitergeführt werden. Es wird empfohlen, dreimal täglich zwei Tabletten einzunehmen.
Bei Personen im Alter über 65 Jahre und bei schwangeren und stillenden Frauen liegen keine Erfahrungen vor; Acamprosat soll deshalb in diesen Fällen nicht gegeben werden. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist Acamprosat kontraindiziert.
Die Kosten einer Behandlung mit Acamprosat (2 g/Tag) belaufen sich auf 150 Franken pro Monat. Übliche Dosen von Antidepressiva oder Neuroleptika, wie sie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt werden, kosten wesentlich weniger.
Kommentar
Ob sich ein biologischer Marker (gamma-GT) dafür eignet, die Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung eines so komplexen Beschwerdebildes wie dem Alkoholismus adäquat zu beurteilen, erscheint fragwürdig. Dennoch lassen die vorliegenden Studien den Schluss zu, dass Acamprosat das Trinkverhalten von schwer Alkoholkranken günstig beeinflusst. Ob Acamprosat auch weniger schwer Alkoholkranken nützt, ist noch unbestimmt. Ebenso fehlen Daten zur Behandlung von Patienten mit einer psychiatrischen Zweiterkrankung.
Alkoholismus ist eine chronische Erkrankung, welche wahrscheinlich lebenslanger Betreuung bedarf. Es überrascht deshalb nicht, dass sich mit der Zeit die Unterschiede zwischen Acamprosat- und Placebo-Behandelten verwischen. Noch ist die Zahl der mit Acamprosat in geeigneten Studien Behandelten vergleichsweise klein. Der Stellenwert des neuen Medikamentes kann deshalb noch nicht klar festgelegt werden.
Literatur
- 1) Littleton J. Addiction 1995; 90: 1179-88
- 2) Le Magnen J. Méd Chir Dig 1990; 19: 47-8
- 3) Daoust M et al. Pharmacol Biochem Behav 1992; 41: 669-74
- 4) Lhuintre JP et al. Lancet 1985; 1: 1015-6
- 5) Lhuintre JP et al. Alcohol Alcohol 1990; 25: 613-22
- 6) Poldrugo F et al. 7th ISBRA Congress, Queensland Australia 1994, Abstract 9.2
- 7) Ladewig D et al. Ther Umsch 1993; 50: 182-8
- 8) Paille FM et al. Alcohol Alcohol 1995; 30: 239-47
- 9) Fortier-Beaulieu M et al. Lancet 1992; 339: 99
- 10) Aubin HJ et al. Alcoologie 1994; 16: 32-41
Standpunkte und Meinungen
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