Nur das Beste ist gut genug

ceterum censeo

«Brompräparate eignen sich in besonderer Weise zur Behandlungvon Krämpfen und Zuckungen (Epilepsie, Hysterie,Chorea), ferner von Nervosität, MénièrescherKrankheit, sexueller Erregtheit, Juckreiz...»
(Aus Bernoulli E, Lehmann H. Übersicht der gebräuchlichen und neuerenArzneimittel. Basel: Schwabe, 1959)

«Danke Herr Doktor, für diesen wunderschönen Tag. ...Seit den Gesprächen mit Ihnen und Ihrer Behandlung mitdiesen Xanax Tabletten sieht die Welt für mich endlichwieder anders aus ... ich nehme alles wieder viel leichter...»
(Aus einem Werbetext für Alprazolam (Xanax®) der Firma Upjohn, ausdem Jahr 1988.)

Eigentlich sind wir doch alle überzeugt, dass wir für die Menschen, die von uns medizinische Hilfe erwarten, nurdas Beste wollen. Dies war auch früher schon so: Ärztinnenund Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker wie auch die vielen anderen therapeutisch tätigen Leute mit und ohne wissenschaftliche Ausbildung haben seit Menschengedenken für sich in Anspruch genommen, das richtige, das beste Mittel zu kennen. Messer oder Laserstrahl, Arsen oder gentechnologisch hergestelltes Insulin, Feldenkreis-Therapieoder Austausch-Transfusionen: am guten Willen, nurdas Beste für den kranken Menschen zu tun, ist nicht zuzweifeln. Wie die am Anfang dieses Textes zitierten Sätzezeigen, ändert sich die Beurteilung der «besten» Verfahren oft rasch und radikal: Brompräparate sind längst aus unserem therapeutischen Arsenal verschwunden und Alprazolam ist nach Untersuchungen amerikanischer Konsumentenorganisationen heute in den USA die häufigsteUrsache einer chronischen Benzodiazepin-Abhängigkeit.

Ich halte es für sehr wichtig, dass wir unser therapeutischesTun und Lassen vor diesem medizingeschichtlichen Hintergrundsehen. Wenn wir heute über zahlreiche Verfahren,die Ende der 50er Jahre angewandt wurden, lächelnoder den Kopf schütteln, so können wir nur hoffen, dassunsere eigenen Therapien nicht in wenigen Jahrzehntenverhöhnt werden. Ich bin aber deshalb keineswegs zutherapeutischem Defaitismus geneigt. Im Gegenteil: es ist von grösster Bedeutung, wie wir mit unserem relativenUnwissen umgehen und wie aufmerksam wir unser «gesichertes» Wissen immer wieder in Frage stellen.

Die wichtigsten Überlegungen zu diesem Thema lassensich anhand einer einfachen Frage diskutieren: WelcheÄrztin, welchen Arzt wünsche ich mir, wenn ich selbst krankwerde?

Selbstverständlich würde ich erwarten, dass sie oder ergenügend auf ihre oder seine allgemein- oder spezialärztliche Aufgabe vorbereitet ist und sich die nötige Zeitnimmt, mir zuzuhören, mich richtig zu befragen und zuuntersuchen. Auch dass sie oder er mit modernen diagnostischen Verfahren soweit vertraut ist, dass ich mit einermass- und sinnvollen «Abklärung» rechnen kann, scheintmir unerlässlich. Wenn es dann aber darum geht, über eine Behandlung zu entscheiden, wünschte ich mir eine Ärztin oder einen Arzt mit «aufklärerischem» Sinn.

Was heute in englischer Sprache als «Evidence Based Medicine» bezeichnet wird, entspringt nämlich in hohem Masse dem Geist der Aufklärung. «Evidence Based Medicine» bedeutet, zu versuchen, die ärztliche Aktivität auf nachweisbare Fakten zu stützen. Es bedeutet gleichzeitig, ärztliche Handlungen in Frage zu stellen und gewissermassen einer unabhängigen Beurteilung preiszugeben. Es istoffensichtlich, dass in diesem Zusammenhang randomisiert-kontrollierte Studien, deren Bedeutung ich schon voreinigen Monaten in einem Editorial unterstrichen habe,eine ganz zentrale Stellung einnehmen.

Dass heute viele Kolleginnen und Kollegen eine Medizinausüben, die von einer «Evidence Based Medicine» ziemlichweit entfernt ist, hat zahlreiche Gründe. Wir sind wohlin Europa zu wenig daran gewöhnt, unsere professionellenTätigkeiten kritisch beurteilen zu lassen. So fällt es vielenschwer, sich z.B. vorzustellen, dass unsere ärztlichen Aufzeichnun gengeprüft würden.

Noch ist auch vielen zu wenig bewusst, dass es die Ärztinnenund Ärzte sind, die «an der Quelle» jedes therapeutischenWissens sitzen (und nicht die Industrie, nicht dieBehörden usw.). Deshalb liegt es auch entscheidend in derVerantwortung der therapeutisch tätigen Kolleginnen undKollegen, sich unabhängig und selbständig über Vor- undNachteile verschiedener Therapien zu informieren. Dassbei dieser fortwährenden Weiterbildung Fachleute eine wichtige Rolle spielen, ist unzweifelhaft. Ein gesundes Misstrauen ist aber angezeigt. Fachleute neigen dazu, ihr Spezialgebiet und ihre eigenen Forschungsresultate in zu rosigem Licht zu sehen. Es gibt unzählige Beispiele, wie Fachleute während Jahren Methoden vertreten haben, die den Kriterien einer «Evidence Based Medicine» nichtgenügen. Ein aktuelles Beispiel unkritischer, aber von vielen Fachleuten vertretenen Empfehlungen ist die Hormonsubstitution in der Postmenopause, deren Nutzennoch keineswegs klar etabliert ist.

Ist aber die Forderung, dass alle therapeutisch Tätigen sich eine eigene Meinung bilden sollten, nicht realitätsfremd? Zugegeben: es ist einfacher, sich an die Prinzipien zu halten, die man einst als Assistenzärztin oder -arzt gelernt hat oder die man von den «grossen Autoritäten» übernimmt.Wenn ich selbst krank bin, brauche ich aber Hilfe von Leuten, die bereit sind, ihre Meinung zu ändern, ihre eigene, beschränkte Erfahrung gegen besseres Wissen einzutauschenund die offen sind für Entwicklungen, die ihnen einst unwahrscheinlich oder falsch erschienen.

Der Aufwand, der zur Bildung einer eigenen fundierten Meinung notwendig ist, war noch vor wenigen Jahren beträchtlich. Heute ist es viel einfacher geworden, sich zuinformieren. Mit wenig technischem Aufwand und geringen Kosten ist es möglich, in jeder Arztpraxis die entscheidenden Daten in kürzester Zeit verfügbar zu machen. Dank den elektronischen Datenbanken können die bibliographischen Daten und meistens auch Zusammenfassungen von mehr als 8 Millionen medizinischer Artikel abgerufen werden. Die von der amerikanischen «National Library of Medicine» unterhaltene Datenbank MEDLINE kann sowohl über das Internet (z.B. an der Adresse http://www.silverplatter.com/) als auch über private Online-Dienste (z.B. via Compuserve und «Paperchase») verwendet werden. Die Voraussetzungen sind bescheiden: oft steht bereits ein Computer in der Praxis; zusätzlich ist ein leistungsfähiges Modem und ein Zugang zum Internet oder eventuell einem privaten Datennetz erforderlich.

Sicher steht uns in den nächsten Jahren eine wichtige Entwicklungsphase bevor, die unser Verhalten gegenüberder Informationsflut stark verändern wird. Schon heute ist es aber möglich, medizinische Information selbständig und kritisch zu sichten. Damit sind eigentlich die Grundlagendafür geschaffen, dass wir zukünftig das therapeutisch«Beste» mit besseren Argumenten vertreten können.

Standpunkte und Meinungen

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Nur das Beste ist gut genug (28. Dezember 1994)
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pharma-kritik, 16/No. 24
PK469
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