Dronabinol

Synopsis

Dronabinol (Marinol®) wird zur Appetitstimulation und zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapien empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Der Wirkstoff von Dronabinol entspricht Tetrahydrocannabinol (THC), einem der über 60 bekannten Cannabinoide, arylsubstituierte Meroterpene, die in der Hanfpflanze (Cannabis sativa) enthalten sind. Der THC-Gehalt der kultivierten Pflanze hat in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen, ein Cannabis-Joint soll heute gegenüber den 60er Jahren eine 15- bis 30-fache THC-Dosis enthalten. Der Genuss von Cannabis (Haschisch, Marijuana) ist heute weitverbreitet. (1)

Erst 1988 hat man spezifische endogene Rezeptoren des zentralen und peripheren Nervensystems bei verschiedenen Tieren und beim Menschen gefunden. Später ist ein zweiter Rezeptor in Makrophagen der Milz gefunden worden. Schliesslich ist 1992 ein erster endogener Ligand zum Cannabisrezeptor entdeckt worden. Diese prostaglandinähnliche Substanz ist Anandamin (Kombination von Amin und «Ananda» = Glückseligkeit in Sanskrit) genannt worden. Anandamine bilden vermutlich ein physiologisches anandaminerges Neurotransmittersystem mit Bedeutung für die Koordination der Körperbewegung, des Kurzzeitgedächtnisses und der Modulation von Emotion und Schmerz.

Pharmakokinetik

Als Rauschdroge wird Cannabis üblicherweise geraucht. Dabei wird THC zu etwa 50% über die Lungen aufgenommen; ein Effekt wird binnen Sekunden wahrgenommen, die volle Wirkung schon nach Minuten erreicht. Bei oraler Aufnahme ist die Bioverfügbarkeit wesentlich geringer; im Vergleich mit der Inhalation ergibt dieselbe Dosis geschluckt nur 25 bis 30% der Blutspiegel des aktiven Stoffes, hauptsächlich wegen extensiver Metabolisierung in der Leber. Der Wirkungseintritt ist verzögert (0,5 bis 2 Stunden), die Wirkungsdauer aber länger.

Resorbiertes THC und andere Cannabinoide verteilen sich in allen Körperkompartimenten, werden aber hauptsächlich im Fettgewebe gespeichert, wo die Maximalkonzentration erst nach 4 bis 5 Tagen erreicht wird. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt etwa 7 Tage; eine Einzeldosis kann bis zur endgültigen Elimination 30 Tage benötigen. Cannabinoide können sich demzufolge im Körper anreichern.

Der Hauptmetabolit der Cannabinoide, 11-Hydroxy-THC, ist möglicherweise aktiver als THC selber. Die Metaboliten werden z.T. im Urin, meistens aber über den Magen-Darmtrakt ausgeschieden. Es lässt sich kaum eine Beziehung zwischen der THC-Plasma- oder Urinkonzentration und dem klinischen Bild einer Intoxikation herstellen.(1)

Klinische Studien

Der medizinische Gebrauch von Cannabis in Europa geht auf das 19. Jahrhundert zurück; zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging die Anwendung spürbar zurück, ehe es als illegale Droge eingestuft wurde. Grösstenteils anekdotische Berichte haben zur erneuten medizinischen Anwendung von THC geführt. (2)

Brechreiz und Erbrechen

Brechreiz und Erbrechen gehören zu den häufigen unerwünschten Wirkungen von Zytostatika. Unbehandelt kann anhaltendes Erbrechen für die behandelten Personen zu einem psychisch oder physisch unerträglichen Zustand führen, der den Abbruch der Behandlung erzwingt.

Viele Chemotherapeutika stimulieren entweder direkt das Brechzentrum oder die Triggerzone, die dann ihrerseits das Brechzentrum aktiviert. Brechreiz und Erbrechen können auch von einer Radiotherapie – besonders des Magen-Darmtraktes – verursacht werden.

Brechreiz und Erbrechen können mit verschiedenen Medikamenten behandelt werden. Oft werden Metoclopramid (z.B. Paspertin®), Kortikosteroide oder die hochwirksamen 5-HT3- Rezeptorantagonisten wie z.B. Ondansetron (Zofran®) eingesetzt.

In einer ersten kontrollierten Studie wurde THC (15 bis 20 mg pro Tag) bei 22 Personen mit verschiedenen bösartigen Tumoren und konventioneller Chemotherapie mit Placebo verglichen. THC hatte bei 14 von 20 Chemotherapiezyklen eine antiemetische Wirkung, während dies für Placebo gar nie beobachtet werden konnte. Etwa 20 bis 60 Minuten nach der THCEinnahme erlebten die erfolgreich Behandelten ein «High», das meistens 2 bis 3 Stunden andauerte; während dieser Zeit trat kein Erbrechen auf.(3)

In einer ähnlichen Doppelblindstudie mit Crossover-Design erhielten 15 Personen mit einem Osteosarkom und Methotrexat- Behandlung zunächst THC oder Placebo oral. Kam es dennoch zum Erbrechen, so wurden THC- bzw. Placebo- Zigaretten zum Rauchen verabreicht. Unter Placebo trat bei 75% der Chemotherapiezyklen Erbrechen auf, unter THC signifikant seltener. Je höher die THC-Plasmaspiegel waren, desto besser war der antiemetische Effekt.(4)

In einer anderen Studie wurden 116 Kranke im Durchschnittsalter von 61 Jahren behandelt, die wegen eines gastrointestinalen Karzinoms Chemotherapie erhielten. THC (3mal 15 mg pro Tag) wurde doppelblind mit Prochlorperazin (früher in der Schweiz als Stemetil® erhältlich) und Placebo verglichen. Das Cannabinoid erwies sich wirksamer als Placebo und etwa gleich wirksam wie Prochlorperazin. 12 der 38 Personen, die THC erhielten, hatten jedoch schwerwiegende neuro-psychiatrische Nebenwirkungen (siehe unten) und brachen deshalb die Studie vorzeitig ab.(5)

Ein Vergleich mit hochdosiertem Metoclopramid erfolgte in einer weiteren Doppelblindstudie. 30 Krebskranke, die mit Cisplatin (Platinol® u.a.) behandelt wurden, erhielten THC oral (total 50 mg/m2 pro Therapiezyklus) oder Metoclopramid- Kurzinfusionen (total 10 mg/kg pro Therapiezyklus). Unter Metoclopramid ergab sich bei 11 von 15, unter THC nur bei 4 von 15 Personen eine gute antiemetische Wirkung. Nur wenige Personen beobachteten unter THC ein «High» und es fand sich kein Zusammenhang zwischen «High» und antiemetischer Wirkung. Metoclopramid wurde subjektiv auch deutlich besser vertragen.(6)

THC oral ist auch bei Radiotherapie mit Prochlorperazin verglichen worden. In dieser Doppelblindstudie waren aber nur die Protokolle von 7 Versuchspersonen auswertbar. Tendenziell schnitt THC bezüglich erwünschter und unerwünschter Wirkung etwas besser ab als Prochlorperazin.(7)

Bisher sind keine Vergleichsstudien mit 5-HT3-Rezeptorantagonisten durchgeführt worden.

Anorexie und Kachexie

Anorexie bzw. ungenügende Nahrungsaufnahme und Gewichtsverlust bis zur Kachexie sind häufige Begleiterscheinungen schwerer chronischer Krankheiten wie Krebs und AIDS.

Die Tumorkachexie ist im Spätstadium einer Krebskrankheit häufig, wobei die Pathogenese nur teilweise geklärt ist. Bei Brechreiz und Erbrechen spielen nebst den iatrogenen Faktoren tumoreigene Substanzen vermutlich eine Schlüsselrolle. Eine Kachexie ist ebenfalls ein häufiges Spätsymptom der HIV-Infektion. Die Pathogenese ist vielschichtig und nicht immer geklärt: Die chronische HIV-Infektion selbst sowie die opportunistischen Infektionen des Magen-Darmtraktes mit Durchfall und Malabsorption, Hypermetabolismus, Begleitmalignomen und Bewegungsmangel bei Lethargie können zusammenspielen.

Die Anorexia nervosa ist eine psychische Störung, welche vorwiegend Mädchen nach der Pubertät und jüngere Frauen betrifft. Sie ist durch eine chronische Störung des Essverhaltens, willkürliches heimliches Erbrechen und oft hochgradige Magersucht, die zum Tode führen kann, gekennzeichnet.
Neben der Behandlung des Grundleidens und allfälliger infektiöser Komplikationen werden hier auch symptomatische Mittel wie Zusatzernährung und pharmakologische Appetitstimulation benutzt. Dazu gehören Kortikostereoide, Antidepressiva, Antihistaminika, Dopaminantagonisten, Gestagene, anabole Steroide sowie Wachstumshormon.(8)

In zwei offenen Pilotstudien wurden insgesamt 42 Kranke mit verschiedenen Malignomen und Gewichtsverlust mit Tagesdosen zwischen 2,5 und 10 mg Dronabinol 3 bzw. 6 Wochen lang behandelt. 10 Teilnehmende verliessen die Studie vorzeitig wegen Nebenwirkungen. Bei den anderen zeigte sich zwar keine signifikante Gewichtszunahme, dagegen nahm ihr Gewicht langsamer ab und der Appetit besserte sich.(9)
Bei 10 durchschnittlich 36 Jahre alten Männern mit AIDS und verschiedenen infektiösen Komplikationen ergab die Verabreichung von Dronabinol (2,5 bis 5 mg pro Tag) während mehreren Monaten eine günstige Wirkung. Sieben nahmen zu, zwei nahmen weniger rasch ab, nur einer blieb unbeeinflusst.(9)

In einer Doppelblindstudie wurde Dronabinol oral (5 mg pro Tag) mit Placebo verglichen: 139 AIDS-Kranke (fast alles Männer) mit Anorexie und Gewichtsverlust wurden behandelt; 88 Patientenprotokolle konnten ausgewertet werden. THC führte bei 38%, Placebo bei 8% (signifikant seltener) zur Appetitzunahme. Das Körpergewicht blieb insgesamt unter THC stabil, unter Placebo kam es zu durchschnittlich 0,4 kg Gewichtsverlust. Die günstige Wirkung auf Appetit und Gewicht wurde erst nach 2 bis 4 Wochen manifest. Die Nebenwirkungen waren verhältnismässig gering.(10)

11 stationäre Patientinnen, welche an Anorexia nervosa litten, erhielten in einer Doppelblindstudie mit Crossover 14 Tage entweder Dronabinol oral (3mal 2,5 bis 10 mg täglich) oder Diazepam (Valium® u.a., ebenfalls 3mal täglich). Die Frauen wurden auch mit Psycho- und Gruppentherapie behandelt. 8 Patientinnen beendeten alle 4 Wochen, 3 schieden wegen schwerer Verstimmung mit paranoiden Ideen und Kontrollverlust unter THC aus. Zwischen Dronabinol und Diazepam ergab sich kein Unterschied bezüglich Kalorienaufnahme, Nahrungszusammensetzung und Gewichtszunahme. Alle Patientinnen hatten ein «High» nach THC, fast alle konnten THC und Diazepam unterscheiden. Die psychiatrischen Befunde verschlechterten sich unter THC.(11)

Andere Indikationen

Die etablierte Therapie von Muskelspastizität ist heute nicht befriedigend und mit verschiedenen unerwünschten Wirkungen belastet. Aufgrund von theoretischen Überlegungen ist Dronabinol bei zwei Männern mit organischer Spastizität geprüft worden. Die Patienten erhielten zuerst während 4 Tagen Dronabinol oral, später während 4 Tagen rektal. Während der Behandlung benötigten die Kranken weniger Analgetika, waren weniger spastisch und beweglicher.(12)

THC ist auch bei anderen Indikationen wie Schmerz, psychischen Störungen wie Schlaflosigkeit, Angst und Depression sowie bei Epilepsie, Asthma und Glaukom geprüft worden. Eine Reihe vorwiegend kleiner Studien zeigt eine therapeutische Wirkung gegenüber Placebo; in den wenigsten Fällen wurde Dronabinol gegen eine aktive Therapie geprüft. Bei Asthma oder Glaukom ist die Applikation des Wirkstoffs problematisch.(2)

Unerwünschte Wirkungen

Unerwünschte Wirkungen von Dronabinol betreffen in erster Linie das Zentralnervensystem (sogenanntes «High», Amnesie, Nervosität, Schläfrigkeit, Benommenheit, paranoide Reaktion, Halluzinationen), den Magen-Darmtrakt (Bauchschmerzen, Brechreiz, Erbrechen) sowie das Herz-Kreislaufsystem (Herzklopfen, Tachykardie, orthostatische Hypotonie).

Plötzlicher Abbruch der Behandlung mit Dronabinol kann ein Abstinenzsyndrom auslösen mit Gereiztheit, Schlafstörungen und Unruhe, die bis 48 Stunden anhalten können. Zeichen einer Dronabinolüberdosierung reichen von Benommenheit, Euphorie bis Gedächtnisstörung, Depersonalisationssyndrom, Urinretention, Koordinationsstörung, Lethargie und orthostatischer Hypotonie; bei entsprechend Disponierten kann es zu Angst- und Panikreaktionen kommen. Als geschätzte letale Dosis wird für einen 70 kg schweren Mann eine Dosis von 2100 mg angegeben.

Es gibt keine Erfahrung über die Anwendung von Dronabinol bei Schwangeren; stillende Mütter sollten aufgrund der in der Muttermilch erreichten Konzentration nicht mit Dronabinol behandelt werden.

Cannabis zum Rauchen gilt nach wie vor als illegale Droge, wenn auch der blosse Konsum nicht geahndet wird. Chronischer Cannabiskonsum ist mit verschiedenen gesundheitlichen Risiken belastet, die das kardiovaskuläre und respiratorische System belasten (Tachykardie, orthostatische Hypotonie, Bronchialkarzinom). (1) Unbestritten ist auch der Zusammenhang zwischen chronischem Cannabiskonsum und Schizophrenie. Chronischer Cannabisgebrauch induziert eine Abhängigkeit.(13) THC in der «medizinischen» Form von Dronabinol ist allerdings bisher weder illegal gehandelt worden noch ergeben sich Hinweise auf Missbräuche.(14)

Interaktionen

Cannabinoide können grundsätzlich mit Sympathomimetika und Anticholinergika zusammen kardiovaskuläre Probleme wie Tachykardie oder Blutdruckanstieg verursachen. Sie können ferner mit Sedativa oder Hypnotika eine verstärkte zentralnervöse Depression auslösen. Da Dronabinol stark an Plasmaproteine gebunden ist, könnte es theoretisch andere Medikamente aus ihrer Proteinbindung verdrängen.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Dronabinol (Marinol®) ist gegenwärtig in der Schweiz als Kapseln zu 2,5 mg und zu 5 mg erhältlich. Die Verschreibung bedarf einer Bewilligung durch das Bundesamt für Gesundheit. Für die Prävention/Behandlung von Erbrechen bei Tumorbehandlung wird eine Dosis von 5 mg/m2 Körperoberfläche ein bis drei Stunden vor der Chemotherapie und dann alle 2 bis 4 Stunden nach der Chemotherapie empfohlen. Insgesamt können 4 bis 6 Dosen pro Tag gegeben werden. Eine Steigerung bis auf 15 mg/m2 ist möglich. Für eine durchschnittlich schwere mittelgrosse Person kostet eine Therapie während eines Chemotherapiezyklus (mit 6mal täglich 10 mg/m2) 283 Franken.

Für die Appetitstimulation werden initial täglich 2mal 2,5 mg Dronabinol empfohlen. Eine solche Behandlung während 20 Tagen kostet 322 Franken. Die Dosis kann bis auf 20 mg pro Tag erhöht werden.

Hochdosiertes Metoclopramid zur Behandlung von Chemotherapie- induziertem Brechreiz und Erbrechen kostet dagegen pro Therapietag lediglich 20 bis 40 Franken.

Kommentar

Dronabinol ist zweifellos eine pharmakologisch interessante Substanz. Die praktische Anwendung wird durch ihre pharmakokinetisch ungünstigen Eigenschaften mit hoher Lipophilie, unklarer Resorption, geringer Bioverfügbarkeit und verzögerter Exkretion eingeschränkt. In den Bereichen, wo ihre Wirksamkeit erwiesen und ihre Anwendung trotz dieser Nachteile gerechtfertigt erscheint – insbesondere bei Chemotherapieinduziertem Erbrechen – gibt es wirksamere Alternativen. Vielversprechend, aber noch ungenügend untersucht, erscheint die Appetitstimulation bei Tumor- und AIDS-assoziierter Kachexie. Die praktisch nur als Anekdoten verfügbaren günstigen Berichte zur Anwendung bei Spastizität und ähnlichen Indikationen lassen sich noch nicht interpretieren. Obwohl THC aus psychiatrischer Sicht keine harmlose Substanz ist, scheint die praktische Erfahrung zu belegen, dass die orale Darreichungsform Dronabinol diesbezüglich unbedenklich ist.

Standpunkte und Meinungen

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Dronabinol (2. Oktober 2002)
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pharma-kritik, 24/No. 8
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