Zidovudin
- pharma-kritik-Jahrgang 12
, Nummer 02, PK582
Redaktionsschluss: 28. Januar 1990 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Zidovudin (Azidothymidin, AZT, Retrovir®) wird als oral verabreichbares antivirales Medikament zur Behandlung von Infektionen mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Zidovudin wird intrazellulär zu Zidovudintriphosphat metabolisiert. Dieses blockiert die DNA-Synthese in den HIV (und anderen Retroviren), indem es als kompetitiver Antagonist zu Thymidintriphosphat um die Bindung an der Reverse-Transkriptase konkurriert.
Antivirales Wirkspektrum
In vitro hemmt Zidovudin die Replikation der Retroviren. Nicht-Retroviren sprechen (mit Ausnahme des Epstein- Barr-Virus) nicht auf Zidovudin an. In zwei Tiermodellen liessen sich Retrovirus-Erkrankungen durch Verabreichung von Zidovudin verhindern, sofern das Medikament bald nach der Infektion verabreicht wurde.(1) Bei transgenen Mäusen dagegen führte eine HIV-Infektion trotz Vorbehandlung mit Zidovudin zu einer manifesten Infektion.(2)
Pharmakokinetik
Zidovudin ist nach oraler Verabreichung zu 60% biologisch verfügbar. Im Liquor cerebrospinalis wird etwa ein Viertel der Plasmakonzentration erreicht; es ist nicht gesichert, dass das Medikament bis in die Hirnzellen gelangt. (3) Zidovudin wird in der Leber glukuroniert und damit inaktiviert. Dieser Metabolit wie auch Zidovudin selbst werden renal mittels Filtration und Sekretion eliminiert. Die Halbwertszeit beträgt rund eine Stunde.(3)
Klinische Studien
Die Wirksamkeit von Medikamenten bei AIDS und beim «AIDS-related complex» (ARC) lässt sich anhand von verschiedenen klinischen Ereignissen (Mortalität, Auftreten und Häufigkeit von opportunistischen Infekten sowie von den für AIDS charakteristischen Neoplasien, neuropsychiatrischen Störungen, Thromozytopenie u.a.) beurteilen. Unter den prognostisch bedeutsamen Laborparametern ist an erster Stelle die Zahl der T-Helferlymphozyten (CD4-Zahl) zu nennen. Je niedriger dieser Wert, desto ungünstiger ist die Prognose.
Nach diesen Kriterien wurde Zidovudin in einer grossen, placebokontrollierten Doppelblindstudie geprüft.(4) In diese Studie, die auf eine Dauer von 24 Wochen angelegt war, wurden insgesamt 281 Patienten aufgenommen, die im Zusammenhang mit AIDS an einer Pneumocystis carinii- Pneumonie erkrankt waren oder Symptome eines fortgeschrittenen ARC aufwiesen. Zidovudin wurde in einer Dosis von 250 mg alle 4 Stunden verabreicht. Diese Studie wurde vorzeitig abgebrochen, als ein unabhängiges Gremium feststellte, dass Zidovudin die Mortalität signifikant senkte. Zu diesem Zeitpunkt hatten allerdings nur 179 Patienten während mindestens 16 Wochen (die anderen während kürzerer Zeit) an der Studie teilgenommen. Bei 61 Patienten war die Studie aus verschiedenen Gründen -- am häufigsten wegen des Auftretens von opportunistischen Infektionen -- schon früher abgebrochen worden. In der Placebogruppe starben 19 Patienten, in der Zidovudingruppe nur einer. Signifikante Unterschiede ergaben sich auch in der Progredienz der Krankheit: Opportunistische Infekte traten unter Placebo bei 45 Patienten, unter Zidovudin aber nur bei 24 Patienten auf. Initial erfolgte bei fast allen mit Zidovudin behandelten Patienten ein Anstieg der CD4-Zahl. Dieser Anstieg hielt allerdings bei AIDS-Patienten nur 12 Wochen, bei ARC-Patienten 20 Wochen an: nachher sanken die Werte wieder deutlich ab.(4) Gemäss einem separaten Bericht konnte in dieser Studie bei den mit Zidovudin behandelten Patienten auch ein vorteilhafter Einfluss auf die mit AIDS assoziierten neuropsychologischen Veränderungen festgestellt werden.(5)
Beim Abschluss dieser Studie waren 229 Patienten (127 aus der Zidovudingruppe und 102 aus der Placebogruppe) bereit, während längerer Zeit Zidovudin (200 bis 250 mg alle 4 Stunden) einzunehmen. Während einer Beobachtungsdauervon 18Monaten (nach der ursprünglichen Doppelblindstudie) starben etwa 42% der Patienten. Bei den meisten Patienten musste die Behandlung zeitweise (vereinzelt auch definitiv) unterbrochen oder die Zidovudindosis reduziert werden. Ein direkter Vergleich mit unbehandelten Patienten ist nicht möglich; die Überlebensrate soll aber erheblich höher sein als in anderen Studien, in denen keine antivirale Behandlung erfolgte.(6) Gemäss anderen Berichten bringt Zidovudin jedoch nur einen kurzfristigen, durch die Toxizität hoher Dosen kompromittierten Erfolg.(7)
Verschiedene Studien zeigen die Kurzzeit-Wirkung von Zidovudin bei HIV-assoziierter Thrombozytopenie. In einer 36 Wochen dauernden Studie mit 38 Patienten (AIDS oder ARC) fand sich während der ersten 8 Wochen bei allen Patienten ein Anstieg der Thrombozytenzahl. Danach sanken die Werte wieder; bei Patienten, die initial eine niedrige Thrombozytenzahl hatten, blieben die Werte aber über dem Ausgangswert.(8)
In einer 12 Wochen dauernden Studie mit 41 Patienten wurde die Wirkung von Zidovudin bei HIV-assoziiertem Kaposi-Sarkom untersucht. Dabei konnte kein Anti-Tumor- Effect von Zidovudin nachgewiesen werden.(9)
Gemäss neuen, bisher erst in Kurzform (und in der Laienpresse!) rapportierten Doppelblindstudien ist Zidovudin auch in frühen Phasen der HIV-Infektion wirksam: HIV-positive Personen ohne oder mit sehr wenig Symptomen erhielten Zidovudin (Tagesdosis zwischen 500 und 1500 mg) oder Placebo. Bei Patienten mit CD4-Werten zwischen 200 und 500 verzögerte Zidovudin das Auftreten von opportunistischen Infektionen (nicht jedoch von Neoplasien) signifikant. Die bei den asymptomatischen Patienten geprüften Dosisvarianten (500 bzw. 1500 mg/Tag) ergaben gleichwertige Resultate.(10)
Gegenüber Zidovudin resistente HIV-Viren (mit einer um das 100fache reduzierten Sensibilität) konnten wiederholt bei Patienten nachgewiesen werden, die das Medikament sechs Monate oder länger erhalten hatten.(11) Die klinische Bedeutung dieser in Virus-Isolaten beobachteten Resistenz ist aber nicht völlig geklärt.
Unerwünschte Wirkungen
Die Knochenmarkstoxizität ist die schwerwiegendste unerwünschte Wirkung von Zidovudin. Anämien, Leukopenien oder Thrombozytopenien führen bei einem sehr grossen Teil der mit hohen Dosen behandelten Patienten zur Dosisreduktion bzw. zum Absetzen des Medikamentes. Ist der Gesundheitszustand zu Therapiebeginn bereits schon reduziert, so scheint die Knochenmarkstoxizität eher aufzutreten. Übelkeit, Myalgien und Schlaflosigkeit sind unter Zidovudin häufiger als unter Placebo.(12) Auch Kopfschmerzen, Schwäche, Fieber, Bauchschmerzen, Gewichtsverlust, Schläfrigkeit, Tremor, Schwindel, manische Symptome, erhöhte Leberenzymwerte, Ösophagusulzera sowie Hyperpigmentation von Haut, Schleimhaut und Nägeln sind beobachtet worden. Bei der längerfristigen Anwendung ist bei geeigneter Dosisanpassung eher mit abnehmenden Problemen zu rechnen.(6)
Zidovudin ist im Tierversuch mutagen; in vitro sind Chromosomenveränderungen festgestellt worden.
Interaktionen: Probenecid wird wie Zidovudin in der Leber glukuroniert und renal wie Zidovudin ausgeschieden. Werden Zidovudin (2 mg/kg per os) und Probenecid (500 mg per os) zusammen verabreicht, so erhöht sich die biologische Verfügbarkeit von Zidovudin wegen Reduktion des hepatischen «First Pass»-Metabolismus; zudem wird die renale Clearance von Zidovudin reduziert. Die Halbwertszeit wird auf 1,5 Stunden verlängert.(13)
Aciclovir hat in vitro eine additive Wirkung zu Zidovudin. Die klinische Relevanz dieses Effektes ist noch unklar. Eine Abschwächung der Zidovudin-Wirkung durch Ribavarin ist dagegen dokumentiert.
Bei gleichzeitiger Gabe von Zidovudin und Paracetamol findet man eine verstärkte Knochenmarkstoxizität, deren Ursache noch unbekannt ist. Interaktionen sind auch mit Medikamenten zu erwarten, die die Glukuronierung hemmen, das Knochenmark schädigen sowie bei nephrotoxischen Medikamenten. Eine recht ausführliche Liste ist im Packungsprospekt von Retrovir® zu finden.
Verabreichung, Dosierung, Kosten
Zidovudin (Retrovir®) ist als Kapseln zu 100 mg und zu 250 mg erhältlich. In der Schweiz wird es im Rahmen einer «Postmarketing-Surveillance»-Studie durch ausgewählte Zentren verordnet und ist so kassenzulässig. -- Die in den ersten Studien verwendete hohe Dosis von 250 mg alle 4 Stunden (auch in der Nacht) wird heute kaum mehr verschrieben. Zur Zeit erhalten in der Schweiz symptomatische Patienten meistens 4mal täglich 250 mg; bei asymptomatischen Personen, die prognostisch ungünstige Laborwerte aufweisen, wird eine Dosis von 2mal täglich 250 mg gewählt. Die höhere Dosis (1000 mg/Tag) kostet 985 Franken, die 500 mg-Dosis 493 Franken pro Monat.
Kommentar
Zidovudin ist heute das Medikament der Wahl zur Behandlung und Prophylaxe von HIV-assoziierten Krankheiten. Viele Aspekte einer Zidovudin-Behandlung haben aber noch experimentellen Charakter. Über die beste Dosis und das Dosisintervall besteht kein Konsens. Insbesondere sind sich die Experten international zur Zeit gar nicht einig, welche asymptomatischen HIV-Träger behandelt werden sollten. In diesem Zusammenhang ist unverständlich, weshalb Resultate neuerer Studien dem allgemeinen Publikum vorgelegt werden, bevor Einzelheiten dieser Studien in Fachzeitschriften veröffentlicht sind. Weitere Probleme sind die zahlreichen unerwünschten Wirkungen, die Ungewissheit in bezug auf eine Resistenzentwicklung der HIV und die hohen Kosten. Ob sich beim Menschen eine HIV-Infektion durch Zidovudin- Gabe gleich nach Ansteckung verhindern lässt, ist nicht bekannt und durch kontrollierte Studien nicht prüfbar. Das Infektionsrisiko z.B. nach einem Nadelstich ist sehr gering. Falls in einem solchen Fall eine Zidovudin-Behandlung (eventuell aus psychologischen Gründen) erforderlich erscheint, sollte diese nach Rücksprache mit einem AIDS-Behandlungszentrum erfolgen.
Literatur
- 1) Furman PA et al. Am J Med 1988; 85: Suppl 2A: 176-181
- 2) McCune JM et al. Science 1990; 247: 564-6
- 3) Collins JM, Unadkat JD. Clin Phamacokinet 1989; 17: 1-9
- 4) Fischl MA et al. N Engl J Med 1987; 317: 185-91
- 5) Schmitt FA et al. N Engl J Med 1988; 319: 1573-8
- 6) Fischl MA et al. JAMA 1989; 262: 2405-10
- 7) Dournon E et al. Lancet 1988; 2: 1297-1302
- 8) Flegg PJ et al. Br Med J 1989; 298: 1074-5
- 9) Lane HC et al. Ann Intern Med 1989; 111: 41-50
- 10) Delamothe T. Br Med J 1989; 299: 584-5
- 11) Larder BA et al. Science 1989; 243: 1731-4
- 12) Richman DD et al. N Engl J Med 1987; 317: 192-7
- 13) de Miranda P et al. Clin Pharmacol Ther 1989; 45: 494-500
- 14) Routy JP et al. Lancet 1989; 2: 384-5
Standpunkte und Meinungen
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