Ärzte und Pharmaindustrie

ceterum censeo

«Ärzte verschreiben kaum Medikamente nur auf Grund einer Reklame, und Pharmaproduzenten können nicht dafür getadelt werden, dass sie den Ärzten entgegenkommen.»
Dieser Satz stammt aus einem Leserbrief,(1) einer Reaktion auf einen Artikel, der ein kritisches Auge auf das Verhältnis zwischen Pharmaindustrie und Ärzten geworfen hatte.(2) Ich zweifle nicht, dass diese Meinung von vielen Schweizer Kolleginnen und Kollegen geteilt wird. Entspricht sie aber den Tatsachen? Es scheint mir, diese Frage werde in der amerikanischen und britischen Fachliteratur viel öfter und offener diskutiert als in den Zeitschriften deutscher Sprache. Auch das Buch über die «gesunden Geschäfte», welches das Geben der Pharmaindustrie und das Nehmen der Ärzte anprangerte, ist schon lange wieder vergessen.
Mit den folgenden Überlegungen möchte ich deshalb zum Nachdenken über unser eigenes Verhältnis zur Industrie anregen. Ich bin nicht der Meinung, dass es dazu nur eine richtige Auffassung gebe. Immerhin sind doch einige Argumente anzuführen, welche die eingangs zitierte Ansicht in Frage stellen.
Die pharmazeutische Industrie hat in hohem Masse zum Wandel der Medizin in unserem Jahrhundert beigetragen. Es ist deshalb ganz natürlich, dass zwischen Industrie und Ärzteschaft ein gutes Einvernehmen besteht. Man kann auch nichts dagegen einwenden, dass die Industrie für ihre -- mit hohen Kosten entwickelten -- Präparate intensiv wirbt. Dabei darf jedoch die spezielle Situation der Ärzte nicht übersehen werden: Ob wir für uns selbst einkaufen oder ob wir -- als Ärzte -- für das Wohl und auf Kosten anderer über die «richtige» Anschaffung zu entscheiden haben, sind zwei verschiedene Dinge. In dieser Hinsicht bringt die Öffentlichkeit den Ärzten sehr viel Vertrauen entgegen. Wenn es um das Verschreiben von Medikamenten geht, sind wir Ärzte nämlich nach wie vor die einzige Instanz; diese Aktivität wird direkt fast gar nicht überwacht. (Die «Kontrollfunktion» der Apotheker ist ja weitgehend auf technische Aspekte wie Dosierung und Einnahmeanweisungen beschränkt.) Es ist klar, dass sich daraus ein ungewöhnlich hoher Anspruch an die ethischen Standards der Ärzte ergibt.
Sicher werden Medikamente nicht nur auf Grund geschickter Werbung verschrieben. Anzunehmen, die Pharma- Werbung sei bedeutungslos, ist aber mehr als naiv. Oft ist uns gar nicht bewusst, dass eine bestimmte Therapiewahl entscheidend von der Reklame beeinflusst worden ist. In den USA konnte gezeigt werden, dass viele Ärzte auch Präparate mit unbefriedigendem Nutzen/Risiko-Verhältnis verschreiben, wenn für diese Medikamente «gut» geworben wird. Die gleichen Ärzte waren aber der Meinung, ihre Verschreibungsgewohnheiten beruhten ganz überwiegend auf zuverlässiger Fachliteratur.(3) Informationen, die uns von der Industrie zukommen, sind notwendi- gerweise einseitig. So ist es zum Beispiel undenkbar, dass jeder einzelne Betablocker der «beste» sein kann. Von den Herstellern kann aber nicht erwartet werden, dass sie uns mitteilen, in welcher Hinsicht andere Betablocker ihrem eigenen Produkt überlegen sind. (Peinlich ist es, wenn Ärztebesucherinnen oder -besucher die Stelle wechseln und plötzlich das Konkurrenzpräparat als überlegen darstellen müssen.) Es ist daher von grosser Bedeutung, dass wir uns immer wieder neu bewusst machen, dass die Industrie in ihren Kontakten mit der Ärzteschaft in erster Linie ihre eigenen Interessen wahrnehmen muss.
Das Primat der ärztlichen Interessen liegt aber beim Wohlergehen der kranken Mitmenschen. In welchem Ausmass ist dies mit dem Entgegenkommen (lies: den Geschenken) der Industrie vereinbar? Wir haben uns so sehr an die Gaben gewöhnt, dass wir uns zimperlich vorkämen, wenn wir die Agenden, Kugelschreiber, Notizblocks und ähnlichen kleinen Annehmlichkeiten zurückwiesen. Wie steht es aber mit den Mahlzeiten, die mit so vielen industrieabhängigen Fortbildungsveranstaltungen fast obligat verbunden sind? Oder was ist von den Wochenendreisen zu halten, mit denen sich die Industrie für die Teilnahme an Feldstudien bedankt? Alle diese Geschenke sind letztlich von unseren Patientinnen und Patienten, ihren Krankenkassen und Versicherungen bezahlt. Zwar muss es nicht grundsätzlich unethisch sein, solche Geschenke anzunehmen. Denkbar wäre zum Beispiel, sie als indirektes Entgelt für die vielen «kleinen» Leistungen aufzufassen, die täglich in jeder Arztpraxis erbracht werden müssen, für die aber keine Rechnung gestellt werden kann.
Unbestreitbar bleibt aber, dass die kleinen Geschenke (und erst recht die grossen) nicht nur die Freundschaft erhalten, sondern auch Verschreibungsgewohnheiten beeinflussen könnten. Studien zu dieser Frage sind nicht vorhanden; an der Realität der Beeinflussungsmöglichkeit ist jedoch nicht zu zweifeln. Zu Recht schreibt daher das American College of Physicians, der Arzt sollte sich vor der Entgegennahme eines Geschenkes fragen, ob er wünschte, dass sein Verhalten einer weiteren Öffentlichkeit bekannt würde. Grundsätzlich sollten Ärzte keine Geschenke, Einladungen oder Geldentschädigungen annehmen, die die Objektivität ihrer klinischen Entscheide beeinflussen könnten. Mehr noch, auch der Anschein einer Beeinflussung sollte vermieden werden.(4) Wie kostspielig ein «akzeptables» Geschenk sein dürfte, sagt das American College of Physicians nicht; die Dimensionen werden vielmehr mit «bescheiden» und «in vernünftigem Rahmen » umrissen. Was die von der Industrie finanzierten Mahlzeiten anbelangt, schreibt ein englischer Kommentator trocken: «Die meisten Ärzte essen auch, wenn keine Firma da ist, die das Essen bezahlt.»(5)
Kolleginnen und Kollegen, deren Meinung beachtet wird («opinion leaders»), sollten der Industrie gegenüber besondere Zurückhaltung üben. Ich bin immer wieder überrascht, dass sich auch Hochschullehrer zu offensichtlich einseitigen Stellungnahmen hergeben. In solchen Fällen drängt sich jeweils der Gedanke an den wahrscheinlich bezahlten Preis auf. Es ist gut und recht, wenn die Industrie die ärztliche Fortbildung mitfinanziert. Auf Gestaltung und Inhalt der Fortbildung sollte sie aber keinen Einfluss nehmen können.(4)
Das American College of Physicians kritisiert auch die Teilnahme an sogenannten Feldstudien, die oft nur der Lancierung eines neuen Präparates dienen. Nur Studien, die ein klar umrissenes Studienziel und eine entsprechende Methodologie (d.h. meistens ein doppelblindes Verfahren) aufweisen, sind sinnvoll. Ich halte es zwar für durchaus vertretbar, dass man vereinzelt einem Patienten ein neues, noch nicht allgemein verfügbares Medikament geben möchte. Von einer Studie zu sprechen ist aber in solchen Fällen übertrieben (und eine Entschädigung für den jeweils notwendigen Bericht kaum angebracht).
Zusammenfassend wäre es durchaus wünschenswert, dass die Spendefreude einzelner Pharmafirmen einzelnen Ärzten gegenüber in engere Schranken gewiesen würde. Was soll mit dem Geld geschehen, das dabei gespart würde? Sollen am Ende die Aktionäre mehr Dividenden erhalten? Ich hätte bessere Vorschläge, die Patienten und Ärzten nützen könnten und erst noch das Ansehen der Industrie mehren würden. Eine Reihe von Projekten zum Wohl der Kranken würde es verdienen, von mehreren (möglichst zahlreichen) Firmen gemeinsam unterstützt zu werden. Am nützlichsten wäre wohl ein Fonds, aus dem Medikamentenstudien ohne Einflussnahme der Industrie finanziert werden könnten. Viele Studien werden heute nur deshalb nicht durchgeführt, weil keine Firma direkt am Studienziel interessiert ist. Eine vermehrte Beteiligung an unabhängigen Untersuchungen zu unerwünschten Wirkungen (wie z.B. das «Comprehensive Hospital Drug Monitoring ») wäre ebenfalls wertvoll. Es liesse sich auch denken, dass viele Fortbildungsveranstaltungen nicht mehr von Einzelfirmen, sondern aus einem von der Industrie gemeinsam geäufneten Pool finanziert würden. Firmen, die Wert darauf legen, individuell aufzutreten, könnten sich durch Arzneimittelprogramme für die Dritte Welt auszeichnen. Kurz: es würde nicht an Möglichkeiten mangeln, kommerziell orientierte Goodwill-Aktionen durch sinnvollere Projekte zu ersetzen.

Etzel Gysling

Literatur

  1. 1) Gorski TN. JAMA 1990; 263: 2177
  2. 2) Chren MM et al. JAMA 1989; 262: 3448-51
  3. 3) Avorn J et al. Am J Med 1982; 73: 4-8
  4. 4) American College of Physicians: Ann Intern Med 1990; 112: 624-6
  5. 5) Smith R. Br Med J 1986; 293: 905-6

Standpunkte und Meinungen

  • Es gibt zu diesem Artikel keine Leserkommentare.
Ärzte und Pharmaindustrie (14. Juni 1990)
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
pharma-kritik, 12/No. 11
PK597
Untertitel Login

Gratisbuch bei einem Neuabo!

Abonnieren Sie jetzt die pharma-kritik und erhalten Sie das Buch «100 wichtige Medikamente» gratis. Im ersten Jahr kostet das Abo nur CHF 70.-.

pharma-kritik abonnieren
Aktueller pharma-kritik-Jahrgang

Kennen Sie "100 wichtige Medikamente" schon?

Schauen Sie ein Probekapitel unseres Medikamentenführers an. Die Medikamente in unserem Führer wurden sorgfältig ausgesucht und konzentrieren sich auf die geläufigsten Probleme in der Allgemeinmedizin. Die Beschränkung auf 100 Medikamente beruht auf der Überzeugung, dass sich rund 90% aller allgemeinmedizinischen Probleme mit 100 Medikamenten behandeln lassen.

Die Liste der 100 Medikamente sehen Sie auf der Startseite von 100 Medikamente.
Passwort beantragen infomed mailings

Ärzte und Pharmaindustrie