Liraglutid

Liraglutid (Victoza®) wird in Kombination mit oralen Antidiabetika zur parenteralen Behandlung des Typ-2-Diabetes empfohlen. 

Chemie/Pharmakologie

Inkretine – insbesondere das Glukagon-ähnliche Peptid Typ 1 (GLP-1) – werden im Darm gebildet und bei Nahrungsaufnahme freigesetzt. Sie führen zur Stimulierung der Insulinausschüttung und zur Hemmung der Glukagon-Produktion. Wie Exenatid (Byetta®)(1)ist Liraglutid ein gentechnisch hergestelltes Polypeptid, das die Wirkung des GLP-1 imitiert. So bewirken diese beiden Polypeptide einen analogen Effekt wie die Gliptine (Sitagliptin [Januvia®, Xelevia®], Vildagliptin [Galvus®], Saxagliptin [Onglyza®], siehe im vorausgehenden Text). Die Wirkung der letzteren beruht auf der Hemmung der Dipeptidylpeptidase-4 (DPP-4), die für den GLP-1-Abbau wichtig ist. Exenatid und Liraglutid werden von der DPP-4 nicht inaktiviert. Wie Exenatid führt Liraglutid zu einem Gefühl der Sättigung und deshalb auch zur Gewichtsabnahme; diese Wirkungen beruhen wahrscheinlich einerseits auf einer Verlangsamung der Magenentleerung, anderseits auf zentralnervösen Mechanismen.(2) 

Pharmakokinetik

Nach subkutaner Injektion wird Liraglutid nur langsam re- sorbiert und zu etwa 55% biologisch verfügbar. Maximale Plasmaspiegel sind 8 bis 12 Stunden nach der Injektion erreicht. Das Medikament wird wie andere Polypeptide endogen metabolisiert, ohne dass ein Organ spezifisch als Ort der Biotransformation bezeichnet werden kann. Die bei anderen Medikamenten bedeutsamen Zytochrome spielen dabei keine Rolle. Die Plasmahalbwertszeit wird auf 13 Stunden geschätzt. Über den Zeitraum von 6 bis 8 Tagen finden sich etwa 6% einer Liraglutid-Dosis als Metaboliten im Urin und etwa 5% im Stuhl.(2)

Klinische Studien

Wirksamkeit und Verträglichkeit von Liraglutid sind in zahlreichen Studien untersucht worden. Von besonderer Bedeutung sind sechs grosse Studien, die unter dem Titel LEAD-Programm («Liraglutide Effects and Action in Diabetes») liefen, sowie eine Vergleichsstudie mit Sitagliptin. Alle diese Studien wurden randomisiert (aber teilweise offen) durchgeführt; Personen mit einem Typ-2-Diabetes und erhöhten HbA1c-Werten (in der Regel zwischen 7 und 11%, bei vorausgehender Mehrfachtherapie zwischen 7 und 10%) wurden aufgenommen. Die Mittelwerte des HbA1c in den verschiedenen Studien betrugen initial 8,2 bis 8,5%. Die sechs LEAD-Studien lassen sich folgendermassen zusammenfassen (die HbA1c-Veränderungen entsprechen den in den Studien erreichten Mittelwerten):
LEAD-3, eine 52wöchige Studie mit 746 Teilnehmenden: Die Monotherapie mit Liraglutid (1,2 oder 1,8 mg/Tag) führte zu einer signifikant deutlicheren Senkung des HbA1c (um 0,84 bis 1,14%) als eine Monotherapie mit dem Sulfonylharnstoff Glimepirid (Amaryl® u.a., 8 mg/Tag: Senkung um 0,51%).(3)

LEAD-1, eine 26wöchige Studie mit 1041 Teilnehmenden: Eine Basistherapie mit Glimepirid (2-4 mg/Tag) wurde durch Liraglutid (0,6 oder 1,2 oder 1,8 mg/Tag) ergänzt; so erhielt man ein besseres Resultat (HbA1c minus 0,6 bis 1,1%) als wenn Rosiglitazon (Avandia®, 4 mg/Tag) hinzugefügt wurde (HbA1c minus 0,4%).(4)

LEAD-2, eine 26wöchige Studie mit 1091 Teilnehmenden: Eine Basistherapie mit Metformin (Glucophage® u.a., 2 g/Tag) wurde durch Liraglutid (0,6 oder 1,2 oder 1,8 mg/Tag) ergänzt; so erhielt man ein ähnliches Resultat (HbA1c minus 0,7 bis 1,0%) wie wenn statt Liraglutid Glimepirid (4 mg/Tag) hinzugefügt wurde (HbA1c minus 1,0%).(5)

LEAD-4, eine 26wöchige Studie mit 533 Teilnehmenden: Wurde eine kombinierte orale Therapie mit Metformin (2 g/ Tag) und Rosiglitazon (8 mg/Tag) mit Liraglutid ergänzt, so erreichte man sowohl mit 1,2 mg/Tag als auch mit 1,8 mg/Tag eine HbA1c-Senkung um 1,5%, mit Placebo aber lediglich um 0,5%.(6)

LEAD-5, eine 26wöchige Studie mit 581 Teilnehmenden: Wurde eine kombinierte orale Therapie mit Metformin (2 g/ Tag) und Glimepirid (4 mg/Tag) mit Liraglutid (1,8 mg/Tag) ergänzt, so erhielt man eine signifikant bessere HbA1c- Senkung (um 1,33%) als mit einer individuell dosierten Therapie mit Insulin-Glargin (Lantus®, Senkung um 1,09%).(7)

LEAD-6, eine 26wöchige Studie mit 464 Teilnehmenden: Wurde eine orale Therapie mit Metformin und/oder einem Sulfonylharnstoff mit Liraglutid (1,8 mg/Tag) ergänzt, so erhielt man eine signifikant deutlichere HbA1c-Senkung (um 1,2%) als mit Exenatid (zweimal täglich 10 mcg: Senkung um 0,79%).(8)

In allen LEAD-Studien wurde unter Luraglutid auch eine Gewichtsabnahme (meistens in der Grössenordnung von 2 bis 3 kg) und eine leichte Senkung des systolischen Blutdrucks beobachtet.

Vergleich mit Sitagliptin: 665 Diabeteskranke wurden während 26 Wochen entweder mit Liraglutid (entweder 1,2 oder 1,8 mg täglich s.c.) oder mit Sitagliptin (100 mg/Tag per os) behandelt. Die höhere Liraglutid-Dosis senkte das HbA1c durchschnitt lich um 1,5%, die niedrigere Dosis um 1,24%. Mit Sitagliptin wurde eine HbA1c-Senkung um 0,9% erreicht (signifikant weniger als mit Liraglutid).(9)

Studien, die über die Morbidität und Mortalität unter Liraglutid Auskunft gäben, liegen bisher nicht vor.

Erwähnenswert ist auch eine Doppelblindstudie bei 564 übergewichtigen Personen ohne Diabetes, in der Liraglutid in verschiedenen Dosierungen während 20 Wochen mit Orlistat (Xenical®, dreimal täglich 120 mg) und mit Placebo verglichen wurde. Alle Teilnehmenden befolgten eine Diät mit nur 500 kcal täglich und wurden aufgefordert, ihre körperliche Aktivität zu intensivieren. In vergleichsweise hohen Tagesdosen (2,4 oder 3,0 mg) führte Liraglutid zu einer signifikant stärkeren Gewichtssenkung als Orlistat. In niedrigeren Dosen war das neue Medikament zwar dem Placebo überlegen, aber nicht signifikant wirksamer als Orlistat. Die durchschnittliche Gewichtsreduktion nach 20 Wochen unter 3 mg Liraglutid täglich betrug 7,2 kg. Auch in dieser Studie wurde unter Liraglutid eine Blutdrucksenkung beobachtet; die Glukosetoleranz oder der Nüchtern-Glukosewerte wurden vorteilhaft beeinflusst.(10)

Unerwünschte Wirkungen

Liraglutid verursacht – besonders in den ersten Wochen der Behandlung – dosisabhängig bei mindestens 10 bis 20% der Behandelten Brechreiz, Erbrechen und Durchfall. Auch Dyspepsie und Verstopfung kommen vor. Eine akute Pankreatitis ist bei Diabeteskranken generell häufiger als bei Personen ohne Diabetes; unter Liraglutid war diese Komplikation in den Studien aber eindeutig häufiger als unter anderen Antidiabetika.(11) Da es sich aber dennoch um ein sehr seltenes Ereignis handelt – bisher wurden unter Liraglutid 7 Fälle bekannt –, gilt ein Zusammenhang mit dem Medikament bisher als ungesichert.

Unter Liraglutid werden auch häufig Kopfschmerzen, Pharyngitis und Inappetenz beobachtet. Eine Hypoglykämie kann besonders bei kombinierter Therapie mit Sulfonylharnstoffen auftreten, ist aber selten ausgeprägt (bei weniger als 1% der Behandelten). Antikörper gegen Liraglutid können bei weniger als 10% der Behandelten nachgewiesen werden; die Wirksamkeit von Liraglutid scheint jedoch von Antikörpern nicht beeinflusst zu werden. In Tierversuchen traten unter Liraglutid medulläre Schilddrüsentumoren auf;(11) gemäss Firmenangaben sind auch beim Menschen Schilddrüsenprobleme (Anstieg des Plasma-Calcitonins, Strumen, Schilddrüsentumoren) unter Liraglutid häufiger als in den Vergleichsgruppen.

Interaktionen

Das Sulfonylharnstoff-bedingte Hypoglykämie-Risiko kann ansteigen, wenn zusätzlich Liraglutid verabreicht wird; die Dosis des Sulfonylharnstoffs muss eventuell reduziert werden. Ob Liraglutid die Wirkung von oralen Antikoagulantien beeinflussen kann, ist nicht geklärt, weshalb die INR initial häufiger überprüft werden soll. 

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Liraglutid (Victoza®) ist als «Fertigpen» mit 3 ml Injektionslösung, die total 18 mg Liraglutid enthalten, verfügbar und limitiert kassenzulässig. Das Präparat ist in der Schweiz zur kombinierten Therapie des Typ-2-Diabetes zugelassen, wenn die orale Therapie mit Metformin und/oder einem Sulfonylharnstoff bzw. mit Metformin und einem Glitazon nicht genügt. Liraglutid wird einmal täglich zu einem beliebigen Zeitpunkt subkutan injiziert; in der ersten Woche beträgt die Dosis 0,6 mg/Tag, von der zweiten Woche an wird 1,2 mg/Tag verabreicht. Die Dosis kann frühestens von der dritten Woche an auf maximal 1,8 mg/Tag erhöht werden. Zur Verabreichung bei Kindern und Jugendlichen bis zu 18 Jahren, bei schwangeren und stillenden Frauen und bei Personen mit fortgeschrittener Niereninsuffizienz liegen keine genügenden klinischen Daten vor; bei diesen Personen soll Liraglutid nicht verwendet werden. Bei Personen über 75 und bei solchen mit Leberfunktionsstörungen sind die Erfahrungen gering. Für eine Tagesdosis von 1,2 mg betragen die Kosten CHF 171.90 pro Monat, für die höhere Dosis (1,8 mg/Tag) sind es CHF 257.85 pro Monat. Exenatid (Byetta®) kostet CHF 164.35 monatlich (unabhängig von der Tagesdosis). Alle anderen antidiabetischen Therapien sind sehr viel billiger (beispielsweise kostet Insulin-Glargin in einer Dosis von 25 E/Tag monatlich nur rund 53 Franken.) 

Kommentar

Es ist denkbar, dass wir uns an einer Wegscheide der Diabetestherapie befinden: eine tägliche Liraglutid-Injektion genügt offenbar, um ohne nennenswerte Hypoglykämiegefahr und ohne Gewichtszunahme eine bessere Senkung der HbA1c- und Blutzuckerwerte zu erreichen als mit Insulin-Glargin. Und es kommt noch besser: bereits liegen Daten zu einem langwirkenden Exenatid-Präparat vor, das – bei vergleichbaren Resultaten – nur einmal wöchentlich verabreicht werden muss.(12) Umso wichtiger ist es, dass wir nicht wie hypnotisiert auf die positiven Auswirkungen auf Surrogatendpunkte starren, sondern uns daran erinnern, dass nur zählt, was am Ende praktisch herauskommt. Mit anderen Worten: solange wir nicht über überzeugende Daten zu klinisch «harten» Endpunkten verfügen, kann die «Inkretin-Therapie» nicht als gute Alternative angesehen werden. Soviel sollten wir eigentlich aus der neueren Medizingeschichte (Rofecoxib, Rosiglitazon) gelernt haben.  

Standpunkte und Meinungen

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Liraglutid (19. August 2010)
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
pharma-kritik, 32/No. 1
PK737
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