Tiotropium
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 25
, Nummer 8, PK78
Redaktionsschluss: 6. August 2003
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2003.78 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Tiotropium (Spiriva®) wird zur inhalativen Therapie der chronisch- obstruktiven Lungenkrankheit empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Tiotropium ist eine quaternäre Ammoniumverbindung und besitzt eine ähnliche Struktur wie Ipratropium (Atrovent®). Als Anticholinergika blockieren sie muskarinische Rezeptoren und wirken einer Bronchokonstriktion entgegen. Es sind fünf verschiedene muskarinische Rezeptoren (M1 bis M5) bekannt, wovon in den Luftwegen drei vorkommen: Der M1-Typ findet sich in parasympathischen Ganglien und ist für die cholinerge Nervenübertragung verantwortlich; der M2-Typ ist an cholinergen Nervenendigungen lokalisiert und hemmt – als eine negative Rückkopplung – die Acetylcholin- Freisetzung; der M3-Typ, in glatten Muskelzellen und submukösen Drüsenzellen vorhanden, vermittelt eine Bronchokonstriktion und Schleimsekretion. Sowohl Tiotropium wie Ipratropium lösen sich wesentlich schneller vom
M2-Rezeptor als von den beiden anderen Rezeptoren und zeigen daher im funktionellen Sinn eine M1- und M3-Spezifität. Die Bindung von Tiotropium an die muskarinischen Rezeptoren hält insgesamt aber viel länger an als bei Ipratropium, was mit einer längeren Wirkdauer verbunden ist.(1)
Pharmakokinetik
Nach Inhalation durch den Mund gelangen 20% einer Tiotropium- Dosis in die Lungen, 80% in den Magen-Darm-Trakt. Der pulmonale Anteil wird zu einem grossen Teil resorbiert, der gastrointestinale dagegen fast nicht; dementsprechend beträgt die biologische Verfügbarkeit knapp 20%. Die maximale Plasmakonzentration ist nach 5 Minuten erreicht. Das resorbierte Tiotropium wird zu über 70% unverändert renal ausgeschieden; der Rest wird einerseits über eine nicht-enzymatische Esterspaltung, andererseits über eine vermutlich CYP2D6- und CYP3A4-vermittelte Oxidation abgebaut. Die terminale Plasmahalbwertszeit beträgt 5 bis 6 Tage.(1,2)
Klinische Studien
Mit Tiotropium sind mehrere grosse Doppelblindstudien bei Personen mit chronisch-obstruktiver Lungenkrankheit (COPD) durchgeführt worden. Alle kannten fast die gleichen Aufnahmekriterien: die Teilnehmenden mussten mindestens 40 Jahre alt sein und einen Nikotinabusus von über zehn «Pack years» aufweisen. Von Tiotropium wurden jeweils einmal pro Tag 18 µg Trockenpulver inhaliert; als Begleitmedikation waren kurzwirkende Betamimetika, inhalierteoder niedrigdosierte oral verabreichte Steroide und zum Teil auch Theophyllin (Unifyl Continus® u.a.) erlaubt. Erfasst wurden Lungenfunktionsparameter, Schweregrad der Dyspnoe, Anzahl der COPD-Exazerbationen und Lebensqualität.
Zwei identische Studien mit insgesamt 921 Personen, denen ein Jahr lang Tiotropium oder Placebo verabreicht wurde, sind in einer Publikation zusammengefasst. Dabei erwies sich Tiotropium als signifikant wirksamer als Placebo.(3)
288 Personen erhielten während 13 Wochen entweder Tiotropium oder Ipratropium (4mal 40 µg/Tag). In der Tiotropium- Gruppe betrug das Erstsekundenvolumen (FEV1) bei Studienbeginn 1,21 l und die forcierte Vitalkapazität (FVC) 2,75 l; bis zum Studienende stieg der Durchschnittswert des FEV1 um 0,26 l, derjenige der FVC um 0,61 l. Dies sind signifikante Unterschiede gegenüber der Ipratropium- Gruppe, wo die Ausgangswerte 1,15 l bzw. 2,57 l und dieVerbesserungen 0,18 l bzw. 0,50 l betrugen. Bei den Tiotropium- Behandelten wurde der Bedarf an Reserveinhalationen mit Salbutamol (Ventolin® u.a.) stärker reduziert als bei den Ipratropium-Behandelten. In Bezug auf den «Peak flow» half Tiotropium ebenfalls besser, allerdings war hier der Unterschied nach 13 Wochen nicht signifikant.(4) Diese Studie
wurde auf ein Jahr ausgedehnt und das Ergebnis mit demjenigen einer nach demselben Protokoll durchgeführten Untersuchung vereint: 31% der Tiotropium-Behandelten (18% der Ipratropium-Behandelten) erfuhren eine als relevant betrachtete Linderung der Dyspnoe, 52% (35%) eine Verbesserung der pulmonal bedingten Beschwerden und Einschränkungen, und 35% (46%) waren von mindestens einer COPD-Exazerbation betroffen.(5)
In einer 24-wöchigen Studie mit 623 Personen wurde Tiotropium placebokontrolliert mit Salmeterol (Serevent®, 2mal 50 µg/Tag) verglichen. Die gemessenen Lungenfunktionswerte – FEV1, FVC und «Peak flow» – wurden durch Tiotropium besser beeinflusst als durch Salmeterol, und zwar mehrheitlich signifikant. Unter Tiotropium notierte man bei 42% eine Abnahme der Dyspnoe und bei 51% eine verbesserte Lebensqualität; unter Salmeterol betrugen die entsprechenden Zahlen 35% bzw. 40%. In beiden Gruppen wurde gleich häufig auf zusätzliche Salbutamol- Inhalationen zurückgegriffen.(6) Auch diese Daten wurden mit denjenigen einer zweiten Studie zusammengefasst, wobei mit der kombinierten Analyse die Unterschiede zwischen Tiotropium und Salmeterol geringer und nur noch bei den Lungenfunktionswerten signifikant waren.(7)
Unerwünschte Wirkungen
Tiotropium kann anticholinerge Nebenwirkungen hervorrufen. Weitaus am häufigsten ist Mundtrockenheit; auch Obstipation kommt vor. Bei Personen mit prädisponierenden Faktoren sind Harnverhalten und tachykarde Herzrhythmusstörungen aufgetreten. Einige Behandelte klagten über ein Irritationsgefühl in den oberen Luftwegen. Wie bei allen anticholinerg wirkenden Substanzen besteht die Gefahr, dass ein Engwinkelglaukom ausgelöst wird, zum Beispiel auch wenn das Pulver versehentlich in die Augen gerät.
Interaktionen
Es sind bislang keine Interaktionen beschrieben. Da Tiotropium nur wenig metabolisiert wird, ist nicht mit relevanten pharmakokinetischen Wechselwirkungen zu rechnen.
Dosierung/Verabreichung/Kosten
Tiotropium (Spiriva®) ist als Kapseln zu 18 µg erhältlich. Für die Inhalation wird eine Kapsel in das mitgelieferte Gerät gelegt (das neu entwickelt worden ist und sich nur für Tiotropium verwenden lässt), wonach der pulverförmige Wirkstoff eingeatmet werden kann. Die Kapseln dürfen nicht peroral eingenommen werden. Tiotropium ist kassenzulässig. Offizielle Indikation ist die chronisch-obstruktive Lungenkrankheit. Tiotropium sollte nicht zur Notfalltherapie eingesetzt werden. Die empfohlene Dosierung beträgt eine Kapsel pro Tag, jeweils möglichst zur selben Tageszeit inhaliert. Bei Personen, die an einem Glaukom oder an einer Blasenabflussstörung (Prostatahyperplasie u.a.) leiden, istVorsicht geboten. Zur Anwendung während der Schwangerschaft oder Stillzeit existieren keine Daten; aufgrund von Tierversuchen ist davon auszugehen, dass Tiotropium in die Muttermilch übertreten kann.
Der monatliche Preis von Tiotropium beträgt 87.90 Franken. Ipratropium (Atrovent®) ist mit 27.40 Franken viel billiger; auch langwirkende Betamimetika kosten deutlich weniger: Salmeterol (2mal 50 µg/Tag, Serevent®) 49 Franken, Formoterol (2mal 12 µg/Tag, Oxis® u.a.) 58.35 Franken.
Kommentar
Bronchodilatierende Medikamente stellen den Grundstein dar bei der medikamentösen Behandlung der chronischobstruktiven Lungenkrankheit. Mit Tiotropium gibt es nun auch in der Gruppe der Anticholinergika eine langwirkende Substanz. Gemäss den klinischen Studien scheint Tiotropium besser zu helfen als die Vergleichssubstanzen. Wenn man sich an den Kriterien orientiert, die im klinischen Alltag eine Rolle spielen, dürften die Unterschiede indessen marginal sein: so müssten zum Beispiel sechs bis acht Personen an Stelle von Ipratropium Tiotropium verwenden, damit eine von einer Abnahme der Dyspnoe bzw. einer Verbesserung der Lebensqualität profitiert.(5) So bleibt als hervorstechendstes Merkmal, dass Tiotropium lediglich ein Mal täglich inhaliert werden muss. Ob dieser Vorteil es rechtfertigt, dass Tiotropium mehr als das Dreifache von Ipratropium kostet, darf bezweifelt werden.
Literatur
- 1) Hvizdos KM, Goa KL. Drugs 2002; 62: 1195-203
- 2) http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/02/briefing/3890b1_06 _Pharmacology-Biopharmaceutics.pdf
- 3) Casaburi R et al. Eur Respir J 2002; 19: 217-24
- 4) van Noord JA et al. Thorax 2000; 55: 289-94
- 5) Vincken W et al. Eur Respir J 2002; 19: 209-16
- 6) Donohue JF et al. Chest 2002; 122: 47-55
- 7) Brusasco V et al. Thorax 2003; 58: 399-404
Standpunkte und Meinungen
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