Dabigatran

Dabigatran (Pradaxa®) ist ein neues Antikoagulans, das in der Schweiz – unter bestimmten Bedingungen – zur Prophylaxe von Schlaganfällen und systemischen Embolien bei Vorhofflimmern zugelassen ist.

Chemie/Pharmakologie

Das Medikament wird als pharmakologisch inaktives «Prodrug» (Dabigatran-Etexilat) verabreicht. Die Umwandlung in die aktive Substanz erfolgt durch Hydrolyse im Plasma und in der Leber. Die Substanz hat eine ähnliche Struktur wie Melagatran (Exanta®), das Antikoagulans, das vor einigen Jahren wegen Hepatotoxizität aus dem Handel gezogen wurde. Dabigatran ist ein direkter, kompetitiver Hemmer von Thrombin (Gerinnungsfaktor II). So kommt eine antithrombotische Wirkung zustande, die in erster Linie darauf beruht, dass die Umwandlung von Fibrinogen in Fibrin gehemmt wird. Unter Dabigatran sind die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT), die Ecarin-Gerinnungszeit (ECT) und die Thrombinzeit (TT) verlängert; diese Untersuchungen eignen sich jedoch nicht zur Quantifizierung der gerinnungshemmenden Wirkung.

Pharmakokinetik

Das «Prodrug» (Dabigatran-Etexilxat) wird bei oraler Gabe rasch resorbiert und kommt als Dabigatran zur Wirkung (siehe oben). Dabigatran-Etexilat ist ein Substrat von P-Glykoprotein. Nüchtern eingenommen, werden maximale Plasmaspiegel nach 1 Stunde (mit Essen zusammen nach etwa 3 Stunden) erreicht. Nur rund 6% einer Dosis werden bioverfügbar. Werden die Dabigatran-Kapseln geöffnet oder zerkaut, so steigt die Bioverfügbarkeit fast auf das Doppelte. Durch Metabolismus entstehen zum Teil Acylglukuronide, die ebenfalls pharmakologisch aktiv sind. Die Zytochrome spielen keine Rolle für den Dabigatran-Metabolismus. Das Medikament wird überwiegend unverändert mit dem Urin ausgeschieden. Die terminale Plasmahalbwertszeit beträgt etwa 12 Stunden.(1)  Bereits bei einer mittelschweren Niereninsuffizienz (Kreatininclearance 30-50 ml/min) ist die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve (AUC) dreimal grösser als bei Nierengesunden; auch die Halbwertszeit ist länger.(2)  Entsprechend verändern sich auch die Werte im Alter.

Klinische Studien

Die Zulassung von Dabigatran beruht in erster Linie auf der grossen randomisierten RE-LY-Studie, in der während median 2 Jahren doppelblind zwei Dabigatran-Dosen (täglich zweimal 110 bzw. zweimal 150 mg) mit der offenen Verabreichung des Vitamin-K-Antagonisten Warfarin verglichen wurden.(3)  Mit Warfarin wurden INR-Werte zwischen 2,0 und 3,0 angestrebt. Etwa 18‘000 Personen mit einem Vorhofflimmern und mindestens einem zusätzlichen Risikofaktor (siehe Tabelle 1) nahmen daran teil. In allen Gruppen wurden rund 20% der Beteiligten während der ganzen Studiendauer auch mit Acetylsalicylsäure (bis zu 100 mg/Tag) behandelt. Als primärer Endpunkt war ein Schlaganfall oder eine systemische Embolie definiert. Mit der kleineren Dabigatrandosis (zweimal 110 mg/Tag) wurde dieser Endpunkt ungefähr gleich häufig (bei 1,53% der Teilnehmenden pro Jahr) erreicht wie mit Warfarin (1,69% pro Jahr). Für die grössere Dabigatrandosis (zweimal 150 mg/Tag) liess sich bezüglich des primären Endpunkts eine statistisch signifikante Überlegenheit gegen Warfarin errechnen (1,11% pro Jahr). Anderseits waren Blutungen mit der grösseren Dabigatrandosis ähnlich häufig wie unter Warfarin. In Bezug auf die Mortalität fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen den verschiedenen Gruppen. Hirnblutungen – ein weiterer sekundärer Endpunkt – waren unter Warfarin häufiger. Die Resultate werden durch die Tatsache relativiert, dass sich in dieser Studie die INR-Werte unter Warfarin nur gerade während 64% der Zeit im erwünschten therapeutischen Bereich befanden. Zudem fällt auf, dass wesentlich mehr mit Dabigatran Behandelte (nach 1 Jahr: 15 bis 16%) die Studie vor dem geplanten Ende abbrachen als diejenigen, die Warfarin erhielten (10%).(3)

Eine Studie bei Personen mit Herzklappenprothesen (RE-ALIGN) musste vorzeitig abgebrochen werden, da unter Dabigatran signifikant mehr thromboembolische Ereignisse auftraten als unter Warfarin.(4)

In drei grossen Doppelblindstudien, an denen insgesamt etwa 7700 Personen beteiligt waren, wurde Dabigatran (einmal täglich 150 oder 220 mg) in der Prävention thromboembolischer Ereignisse nach Hüft- oder Knieersatz gegen Enoxaparin (Clexane®, einmal täglich 40 mg) geprüft. Dabei erwies sich Dabigatran als ähnlich wirksam und (bezüglich Blutungsrisiko) ähnlich verträglich wie das niedermolekulare Heparin.(5-7) In einer weiteren Studie (RE-MOBILIZE, n=1900) jedoch, in der nach Kniegelenkersatz die «nordamerikanische» Dosierung von Enoxaparin (zweimal täglich 30 mg) mit Dabigatran (einmal täglich 150 oder 220 mg) verglichen wurde, traten unter Dabigatran signifikant mehr thromboembolische Komplikationen auf.(8)

In den zwei sogen. RE-COVER-Studien erhielten insgesamt etwa 5000 Kranke, die an einer akuten venösen Thrombose oder Lungenembolie erkrankt waren, wenige Tage nach dem akuten Ereignis für 6 Monate entweder Dabigatran (zweimal täglich 150 mg) oder gemäss INR-Werten adaptierte Warfarin-Dosen. Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen: die Rezidivrate lag im Bereich zwischen 2,1 und 2,4%.(9,10)

In zwei Studien wurde ferner untersucht, ob sich eine längerfristige Antikoagulation nach einem thromboembolischen Ereignis vorteilhaft auswirke. In einer Studie wurde Dabigatran mit Warfarin verglichen (aktive Kontrolle), in der anderen mit Placebo. Diese Studien dauerten durchschnittlich 17 Monate (aktive Kontrolle) bzw. knapp 6 Monate (Placebokontrolle). Beim Vergleich mit Warfarin ging eine mindestens dreimonatige, beim Vergleich mit Placebo eine mindestens sechsmonatige Antikoagulation voraus. Warfarin verhütete signifikant mehr Rezidive, verursachte aber auch mehr Blutungen. In der Placebo-Vergleichsstudie hatten 5,6% der Teilnehmenden unter Placebo ein Rezidiv, unter Dabigatran nur 0,4%.(11)

Dabigatran ist bisher mit keinem anderen «neuen» Antikoagulans direkt verglichen worden.

Unerwünschte Wirkungen

Blutungen sind wie bei anderen gerinnungshemmenden Medikamenten das Hauptproblem von Dabigatran. Ob sich Dabigatran in dieser Hinsicht bei vergleichbarer antithrombotischer Aktivität von anderen Antikoagulantien unterscheidet, ist zurzeit umstritten. Nach der Einführung des Medikamentes in den USA wurden sehr viel mehr Dabigatran-assoziierte Blutungen gemeldet als z.B. solche im Zusammenhang mit Warfarin; im Jahr 2011 sind den Behörden (FDA) über 2000 Blutungen und 542 Todesfälle unter Dabigatran rapportiert worden.(12)  In mehreren Arbeiten wird auch auf die Häufung gastro-intestinaler Blutungen unter Dabigatran hingewiesen. Neben einer Analyse, die eine erhöhte Mortalität bei Dabigatran-bedingten Blutungen aufzeigt, steht aktuell die Interpretation der FDA, die grosse Zahl der Meldungen entspreche einen «stimulated reporting».(13)

Koronare Ereignisse sind gemäss einer Meta-Analyse randomisierter Studien unter Dabigatran häufiger als unter anderen Antikoagulantien.(14)

Weitere Nebenwirkungen sind (häufig) Oberbauchbeschwerden, Übelkeit, Durchfall sowie (gelegentlich) allergische Reaktionen und ein Anstieg der Leberenzyme.

Interaktionen

Bei gleichzeitiger Einnahme von Dabigatran und Plättchenhemmern besteht ein stark erhöhtes Blutungsrisiko. Interaktionen mit Hemmern und Induktoren des P-Glykoproteins sind möglich; die gleichzeitige Verabreichung von starken Induktoren – wie Rifampicin (Rimactan®) – wird besser vermieden, ebenso die Einnahme von starken Hemmern, z.B. von Dronedaron (Multaq®), Ciclosporin (Sandimmun®) oder Itraconzol (Sporanox® u.a.). Ausserdem wird empfohlen, Amiodaron (Cordarone® u.a.) und Verapamil (Isoptin® u.a.) frühestens 2 Stunden nach der Dabigatran-Gabe einzunehmen.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Dabigatran (Pradaxa®) ist in der Schweiz zur Prävention von Schlaganfällen und systemischen Embolien bei nicht-valvulärem Vorhofflimmern zugelassen; zudem soll mindestens eines der in der RE-LY-Studie verwendeten Zusatzkriterien (Tabelle 1) vorhanden sein. Eine Dosis von zweimal täglich 150 mg wird empfohlen; die Kapseln sollen nicht geöffnet oder zerkaut werden. Vor und während der Behandlung soll die Nierenfunktion kontrolliert und allfällige Blutungszeichen überwacht werden. Bei einer Kreatininclearance unter 50 ml/min und generell bei Personen über 80 soll die Dosis auf zweimal täglich 110 mg reduziert werden; Dabigatran ist kontraindiziert bei einer Kreatininclearance von weniger als 30 ml/min. Weitere Kontraindikationen sind Schwangerschaft, Stillzeit, fortgeschrittene Leberinsuffizienz und Alter unter 18 Jahren. Die Behandlung mit Dabigatran (kassenzulässig) kostet 121 Franken pro Monat und ist damit etwas teurer als eine Behandlung mit Rivaroxaban (Xarelto®, CHF 111/Monat).


Kommentar

Personen mit Vorhofflimmern sind ganz überwiegend ältere Leute, bei denen die Nierenfunktion schon primär nicht ideal oder auch im Zusammenhang mit den verschiedensten Interventionen sekundär verschlechtert sein kann. Dazu kommt, dass – trotz beschwichtigenden Äusserungen der FDA – keineswegs völlig klar ist, ob Dabigatran nicht mit einem vergleichsweise erhöhten Blutungsrisiko verbunden ist. Damit ist Dabigatran aus meiner Sicht vorderhand keine optimale Schlaganfall-Prophylaxe bei Vorhofflimmern. Eine Behandlung mit einem Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon (Marcoumar®) bietet dagegen relevante Vorteile: jahrzehntelange Erfahrung, zuverlässige Kontrollmöglichkeiten und ein brauchbares Antidot.

Standpunkte und Meinungen

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Dabigatran (16. April 2013)
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pharma-kritik, 35/No. 3
PK894
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