Eine Alibiübung?

Es liegt in der Natur eines «ceterum censeo», dass sich gewisse Themen immer wieder neu aufdrängen. Diesmal ist es das Thema «Interessenkonflikt», zu dem ich vor zehn Jahren einmal geschrieben habe,(1) das aber für mich erneut aktuell geworden ist.

Wie einige Leserinnen und Leser wissen, gehört unsere Zeitschrift zur Gruppierung unabhängiger Arzneimittel-Publikationen («International Society of Drug Bulletins», ISDB), eine lockere internationale Vereinigung werbefreier Informationsblätter, an deren Gründung die «pharma-kritik» seinerzeit mitbeteiligt war. Vor einem Jahr endete das reguläre ISDB-Meeting mit einem Missklang, da sich keine genügende Mehrheit für eine vom Vorstand vorgelegte Änderung der Statuten ergab und sich darauf niemand fand, der sich für die (gemäss Statuten notwendige) Erneuerung des Vorstands melden wollte. Bei der geplanten Statutenänderung geht es darum, dass ISDB-Publikationen keine Texte von externen Mitarbeitenden mit Interessenkonflikten enthalten sollen. (Dass Redaktionsmitglieder dieser Blätter keine Interessenkonflikte haben dürfen, gilt schon lange als selbstverständlich.) Anfang Juli dieses Jahres fand nun ein ausserordentliches ISDB-Meeting statt, das sich erneut mit dieser Statutenänderung zu befassen hatte. Dabei schien mir fast, als ob sich das kühle Klima in Leiden auf das Temperament der Voten (die vergangenes Jahr in Pamplona recht feurig waren) mildernd ausgewirkt hätte. Jedenfalls wurde diesmal beschlossen, die erwähnte Klausel in die Statuten aufzunehmen.

Was jedoch weder festgelegt noch genauer diskutiert wurde: Was bedeutet konkret, «keine Interessenkonflikte» zu haben? Ich habe mich etwas umgeschaut, was sich dazu sagen lässt und bin dabei auf sehr viele, komplexe und teilweise ungelöste Fragen gestossen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema ist deshalb spannend, weil sie keineswegs eine akademische Denkübung darstellt, sondern ständig die Frage aufwirft: Und bei uns? Wie verhalten wir uns bei dieser oder jener heiklen Frage?

Das «International Committee of Medical Journal Editors» (ICMJE) hat ein Formular veröffentlicht,(2) mit dem Interessenkonflikte deklariert werden können. Bei der Eingabe von wissenschaftlichen Texten fordern heute viele medizinische Zeitschriften, dass ihnen dieses Formular vorgelegt wird. Verschiedene Punkte werden dabei berücksichtigt: Eine erste Frage befasst sich mit der Finanzierung der Arbeit, die die Basis des Textes bildet. Dabei sollen alle Geldquellen, also neben der Industrie z.B. auch Forschungsfonds oder Stiftungen genannt werden; ebenso sind Finanzen anzugeben, die primär dem Arbeitgeber (z.B. der Universität) zugekommen sind. Aber auch Einnahmen, die nicht direkt mit dem Thema des Textes zu tun haben, sollen deklariert werden, sofern sie innerhalb von 3 Jahren vor der Eingabe und von Sponsoren kamen, die allenfalls von für sie «positiven» Aussagen profitieren könnten. So soll beispielsweise ein Onkologe auch Finanzquellen angeben, von denen er für andere Onkologie-Studien (mit anderen Medikamenten oder mit diagnostischen Verfahren) als den in der Publikation besprochenen Mitteln Geld erhalten hat. Ferner wird nach «intellektuellem Eigentum» (wie Patente) gefragt und schliesslich sollen selbstverständlich Honorare, Spesenvergütungen und nicht-finanzielle Unterstützung (z.B. bei der Redaktion von Texten) deklariert werden. Das ICMJE-Formular ist so konzipiert, dass es am Schluss, nachdem man alles angegeben hat, «automatisch» ein «Disclosure Statement» produziert. Leserinnen und Leser bekommen in der Regel (wenn überhaupt) dieses Statement zu sehen. Für die grossen medizinischen Zeitschriften ist es quasi unvermeidlich, dass ihre Autorinnen und Autoren häufig Interessenkonflikte haben – wobei unklar bleibt, in welchem Ausmass dies dem lesenden Publikum bewusst wird.

Die vordergründige Problematik bei medizinischen Texten ist der Konflikt mit den Interessen der Pharmaindustrie bzw. der Hersteller von medizinischen Geräten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch die Verflechtung mit anderen Interessen – andere Industriezweige, Versicherungen, Berufsorganisationen usw. – nicht belanglos ist. Die Interessen einer Institution, eines Universitätsinstituts oder auch einer Behörde können ebenfalls mit im Spiel sein. Dennoch besteht kein Zweifel, dass eine finanzielle Unterstützung durch die Pharmaindustrie das weitaus grösste Problem darstellt, weil es möglich ist, mit «manipulierten» Daten sehr viel Geld zu verdienen. Dies trifft umso mehr zu, als es immer noch vorkommt, dass Studienprotokolle die Klausel enthalten, Resultate dürften nur mit Genehmigung seitens des industriellen Sponsors veröffentlicht werden. So kann es sein, dass z.B. unerwünschte Wirkungen, die den Studienverantwortlichen aufgefallen sind, in der Publikation gar nicht oder nur am Rande erwähnt werden.

Interessant ist auch, wie die Cochrane Collaboration mit Interessenkonflikten umgeht. Diese Organisation widmet der Interessen-Problematik in ihren Grundsätzen ein längeres Kapitel.(3) Sie verwendet eine modifizierte Version des erwähnten ICMJE-Formulars,(4) in welchem viele der möglichen Interaktionen (z.B. Aktienbesitz, Zahlungen für Vorträge, Unterstützung für schriftliche Arbeiten) präzis abgefragt werden. Wer sich an einer Arbeit («Review») für die Cochrane Collaboration beteiligen will, muss vor Beginn der Arbeit dieses Formular vorlegen. Dieses wird von der entsprechenden Review-Fachgruppe (und im Zweifelsfall noch von einer weiteren Instanz) beurteilt. Autorinnen und Autoren mit Interessenkonflikten können an der Arbeit mitbeteiligt sein; einzig Angestellte von interessierten Firmen und Eigentümer von Patenten sind allgemein explizit von der Mitarbeit bei der Cochrane Collaboration ausgeschlossen. Eine Review kann nicht von einer Firma gesponsert werden. Ferner muss innerhalb einer Gruppe von Fachleuten, die für die Arbeit verantwortlich zeichnen, die Mehrheit frei von Interessenkonflikten sein. Von den Mitgliedern der leitenden Review-Fachgruppe wird erwartet, dass sie in den Ausstand treten, wenn sich aus ihrer persönlichen Interessenlage bei bestimmten Arbeiten ein Konflikt ergäbe. Auch für externe Reviewer («Peer Reviewer») von Cochrane-Übersichten gilt, dass sie keine finanziellen Interessen im Zusammenhang mit dem untersuchten Thema haben dürfen. Alle diese Grundsätze entsprechen gewiss den besten Intentionen; dennoch verbleiben zahlreiche Szenarien, in denen dennoch Konflikte entstehen.(5)

In den Cochrane-Reviews werden auch Studien berücksichtigt, die durchaus «konfliktbeladen» sein können. Gemäss einer Arbeit, in der rund 150 Cochrane-Reviews untersucht wurden, enthalten nur 11% dieser Reviews Angaben zu industriellem Sponsoring oder zu finanziellen Interessenkonflikten der für die berücksichtigten Einzelstudien Verantwortlichen.(6) Dies weist auf ein grundsätzliches Dilemma von Berichten zur Arzneimitteltherapie hin: Fast alle Medikamenten-Studien werden im Auftrag der Industrie durchgeführt und sehr viele der Studienautorinnen und -autoren erhalten in der einen oder anderen Form Gelder seitens der Industrie. Mit anderen Worten: wer über Medikamente berichten will, muss sich notwendigerweise auf solche Studien stützen.

Es gibt noch einige weitere Punkte, die zu denken geben:  Ist es nicht auch ein Interessenkonflikt, wenn nahe Verwandte von Autorinnen und Autoren finanzielle Beziehungen zur Industrie haben? Es kann ja z.B. kaum belanglos sein, wenn der Vater oder die Tochter eines Autors Eigentümer bestimmter Aktien ist. (Dass fast alle von uns indirekt – via Altersvorsorge – an Industrieaktien und -profiten beteiligt sind, sei nur am Rande vermerkt.)

Einige der ISDB-Mitglieder veröffentlichen ihre Texte anonym. Unklar bleibt dabei, ob tatsächlich alle Texte vollumfänglich vom (interessefreien) Redaktionsteam verfasst sind. Mindestens bei einzelnen Publikationen ist anzunehmen, dass auch externe Mitarbeitende mitwirken. Für diese mag gelten, dass sie ebenfalls frei von Interessenkonflikten sind – wissen kann man es aber nicht sicher.

Schliesslich die Gretchenfrage: Ist die Aussage, man sei frei von Interessenkonflikten, wirklich glaubwürdig? Mit welchen Verfahren liesse sich dies überprüfen? Es ist nämlich keineswegs ausgeschlossen, dass Deklarationen zu Interessenkonflikten geschönt sind. Dazu gibt es verschiedene Beispiele, die zeigen, dass manchmal Konflikte ganz einfach «vergessen» werden.(7,8) Damit ist klar: trotz allen Beteuerungen geht es hier um eine Frage von Treu und Glauben. Ob sich das Problem der Überprüfbarkeit in absehbarer Zeit lösen lässt, ist zu bezweifeln. Ein Grossteil der Pharmafirmen hat sich zwar verpflichtet, ihre sogenannt geldwerten Leistungen an Fachleute publik zu machen. Solange sich die letzteren aber auf den Datenschutz berufen und die Nennung ihrer Namen verweigern können,(9) ist es illusorisch, die «no conflict of interest»-Deklarationen überprüfen zu wollen.

Bedenkt man alle fraglichen Punkte, so kann man sich kaum des Gedankens erwehren, die Deklarationen zu Interessenkonflikten erfüllten in erster Linie eine Alibifunktion. Wohlgemerkt: Interessenkonflikte sind ein echtes Problem, nur wird es von diesen Deklarationen nicht gelöst. Da es aber heute für eine «anständige» Zeitschrift quasi erforderlich ist, werden wir auf unserer Website auch eine ausführliche Deklaration veröffentlichen. Ich selbst bin aber überzeugt, dass sich die Unabhängigkeit von finanziellen Interessen an bestimmten Qualitäten des Textes besser abschätzen lässt als an den schönsten Deklarationen. Meine Liste von 10 Merkmalen (siehe Tabelle), die eine Medikamenten-Analyse ohne Interessenkonflikte auszeichnen, kann dabei helfen.

Standpunkte und Meinungen

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Eine Alibiübung? (18. Juli 2016)
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pharma-kritik, 38/No. 4
PK994
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