Editorial: Zwischenbilanz

Nachdem nun bereits 240 Seiten infomed-screen erschienen sind und ich mich mit jeder Nummer intensiv auseinandergesetzt habe, sind mir Aufgaben und Ziele dieser Zeitschrift klarer als früher vor Augen. Kein Zweifel besteht jedenfalls, dass Bedarf nach einer werbefreien, kritischen «Sekundärpublikation » von medizinischen Studien besteht. Unabhängig davon, wie stark sich die elektronische Revolution im Bereich der medizinischen Fachzeitschriften auswirken wird, Platz für Publikationen wie infomed-screen wird auch in Zukunft vorhanden sein. Warum?
Medizinische Evidenz ist nicht einfach Evidenz. Nicht nur ist der Stellenwert verschiedener Studientypen innerhalb der Evidenzhierarchie recht unterschiedlich, auch Studien scheinbar gleicher Wertigkeit unterscheiden sich in vielen Aspekten, die der Interpretation bedürfen. Die kurzen Kommentare, die uns von sachkundigen Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung gestellt werden, leisten hier ausgezeichnete Dienste. Um für alle unsere Texte Platz zu finden, sind wir allerdings nicht selten genötigt, diese Kommentare zu kürzen. Von der aktuellen Nummer an werden auch die ungekürzten Kommentare und vereinzelt auch zusätzliche Kommentare lesbar sein – nicht in gedruckter Form, aber im Internet. Ich hoffe, dass wir so Leserinnen und Lesern, die sich einen längeren Kommentar wünschen, entgegenkommen und werde mich auch dafür einsetzen, dass innerhalb unserer Website Platz für Diskussionen zu infomed-screen- Texten reserviert wird.
Evidenz, die kein oder wenig Geld einbringt, wird oft sträflich vernachlässigt. Gerade diese Evidenz in den Vordergrund zu rücken, ist eine wesentliche Aufgabe einer unabhängigen, nichtkommerziell orientierten Zeitschrift. In allen drei bisherigen Jahrgängen unseres Blattes finden sich wiederholt Texte zu präventivmedizinischen Massnahmen (Einschränkung des Tabakkonsums, früchte- und gemüsereiche Ernährung, körperliche Aktivität) und zum Nutzen von «alten», relativ kostengünstigen Medikamenten (z.B. Acetylsalicylsäure, Betablocker). Wie wichtig es ist, Neues mit Altem zu vergleichen, zeigt zum Beispiel der Text zu den Antihypertensiva in dieser Nummer.
Spezielle Aufmerksamkeit versuchen wir auch denjenigen Interventionen zu schenken, die langfristige Konsequenzen haben. Mehr und mehr werden ja heute (besonders medikamentöse) Massnahmen empfohlen, deren Auswirkungen sich nur mit sorgfältig geplanten, langdauernden Studien zuverlässig beurteilen lassen. So gehört es zu den Aufgaben von infomed-screen, die Bestätigung von Hypothesen aufzuzeigen, die vielleicht lange umstritten waren. Als Beispiel können Daten zum Nutzen der Senkung des Cholesterinspiegels (genauer, zur Senkung des LDL-Cholesterins) zitiert werden. Auf der anderen Seite ist es mir aber auch ein Anliegen, Studienresultate hervorzuheben, die eine bisher unbewiesene Hypothese in Frage stellen. So steht zum Beispiel die These eines vorteilhaften Nutzen-Risiko- Verhältnisses einer Hormonsubstitution in der Postmenopause auf schwachen Füssen, wird jedoch von interessierten Kreisen intensiv propagiert. Umso wichtiger ist es, dass wir neue Daten – z.B. neue Hinweise auf brustkrebsfördernde Wirkungen einer Östrogen/Gestagen-Substitution1 – unseren Leserinnen und Lesern nahebringen.
Wenn ich auch keineswegs denke, dass die heutige Form einer Evidenz-basierten Medizin den letzten Schluss der Weisheit darstellt, so bringt sie uns allermindestens vor Augen, dass wir unsere ärztliche Tätigkeit ständig neu hinterfragen sollten. Wenn es uns gelingen könnte, mittels infomed-screen diese Notwendigkeit immer wieder bewusst zu machen, wäre ich sehr stolz auf den Nutzen unseres bescheidenen Blattes.
Stolz bin ich aber auch darauf, dass es Thomas Weissenbach und mir gelingt, das Projekt infomed-screen einigermassen leidlich über Wasser zu halten. Auch im vergangenen Jahr hat die Wiler Gruppe für «Evidence Based Medicine» uns mit ihren Studienzusammenfassungen grossartig unterstützt. Wir durften erfreulicherweise auf die Mithilfe weiterer Kolleginnen und Kollegen zählen, nicht zuletzt auch auf die bereits erwähnten Autorinnen und Autoren von Kommentaren. Allen diesen Helferinnen und Helfern fühle ich mich in Dankbarkeit verbunden.

Etzel Gysling

1 Schairer C, Lubin J, Troisi R et al. Menopausal estrogen and estrogen-progestin replacement therapy and breast cancer risk. JAMA 2000 (26. Januar); 283: 485-91

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Editorial: Zwischenbilanz ( 2000)