Suizidrisiko von Antidepressiva mangels Daten unklar

  • m -- Sharma T, Guski LS, Freund N et al. Suicidality and aggression during antidepressant treatment: systematic review and meta-analyses based on clinical study reports. BMJ 2016 (27. Januar); 352: i65 [Link]
  • Zusammenfassung: Felix Schürch
  • Kommentar: Peter Zingg
  • infomed screen Jahrgang 20 (2016) , Nummer 3
    Publikationsdatum: 14. Juni 2016
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Studienziele

Begünstigen Antidepressiva aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) und der Gruppe der selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) suizidales Verhalten? Diese Frage wird sowohl in Fachkreisen als auch in der Laienpresse kontrovers diskutiert. Die objektive Beurteilung dieser Frage wird durch die Tatsache erschwert, dass bei der Publikation von Studien in medizinischen Zeitschriften häufig nur unvollständige Angaben zu unerwünschten Medikamentenwirkungen gemacht werden. Aus diesem Grund stützt sich die vorliegende Meta-Analyse auf Daten aus den Arzneimittelbehörden zur Medikamentenzulassung vorgelegten Studienberichten («clinical study reports»), in welchen unerwünschte Wirkungen aus gesetzlichen Gründen detaillierter aufgeführt sein sollten. Neben dem Risiko für suizidale Gedanken und Handlungen wurde auch das Risiko für aggressives Verhalten und Akathisie (innere Unruhe, krankhafter Bewegungsdrang) untersucht.

Methoden

Das «Nordic Cochrane Centre» (Kopenhagen) beantragte bei den europäischen und britischen Zulassungsbehörden Zugang zu Studienberichten zu Antidepressiva (SSRI und SNRI), in welchen individuelle Patientendaten zu unerwünschten Wirkungen aufgeführt wurden. Der Zugang zu solchen Studienberichten wurde ihnen für folgende fünf Substanzen gewährt: Duloxetin (Cymbalta® u.a.), Fluoxetin (Fluctine® u.a.), Paroxetin (Deroxat® u.a.), Sertralin (Zoloft® u.a.) und Venlafaxin (Efexor® u.a). Für die Analyse wurden 68 Berichte (von insgesamt 198) zu 70 placebo-kontrollierten Doppelblindstudien berücksichtigt. Bei den nicht-berücksichtigten Berichten handelte es sich um Studien mit einem anderen Studiendesign (z.B. Pharmakokinetik-Studien) oder die Berichte enthielten keine auswertbaren Angaben zu unerwünschten Wirkungen. Aus den berücksichtigten Berichten wurden alle Daten zu einzelnen unerwünschten Nebenwirkungen extrahiert, plausibilisiert und zu einer Meta-Analyse zusammengefasst. Für Duloxetin und Fluoxetin konnten die so gefundenen Daten zusätzlich mit den Angaben verglichen werden, welche das Pharmaunternehmen «Eli Lilly» im Internet öffentlich publiziert.

Ergebnisse

Daten von insgesamt 18'526 Studienteilnehmenden konnten ausgewertet werden. Für Erwachsene konnte keine erhöhte Mortalität oder Suizidalität unter Antidepressiva-Therapie gezeigt werden, bei Kindern und Jugendlichen jedoch war das Risiko für suizidale Gedanken und Handlungen erhöht («odds ratio» OR 2,39; 95% CI 1,31-4,33). Todesfälle gab es bei Kindern und Jugendlichen keine. Eine Tendenz zu vermehrtem aggressivem Verhalten und zu Akathisie unter Antidepressiva war bei Kindern und Erwachsenen festzustellen, statistisch signifikant gegenüber Placebo war allerdings nur der Unterschied bezüglich aggressivem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen.

Häufig wurden unerwünschte Ereignisse nur auf detaillierten Tabellen in den Berichts-Anhängen aufgeführt und in der offiziellen Auswertung anders klassifiziert oder gar vollständig ignoriert. Da nicht bei allen Berichten derart detaillierte Anhänge zur Verfügung standen, befürchten die Verantwortlichen der Cochrane-Analyse, dass trotz all ihren Bemühungen die untersuchten unerwünschten Ereignisse nicht lückenlos erfasst werden konnten. Ebenso waren die Angaben im Internet inkonsistent und inkomplett gegenüber denjenigen in den Studienberichten. Dies ist insbesondere deshalb von Bedeutung, da es sich um eher seltene Ereignisse handelt, bei denen bereits ein Unterschied von ein paar wenigen Fällen einen relevanten Einfluss auf das statistische Ergebnis haben kann.

Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse dieser unabhängigen Meta-Analyse von Studienberichten zuhanden der Zulassungsbehörden bestätigen ein erhöhtes Risiko für suizidale Gedanken und Handlungen sowie für aggressives Verhalten bei Kindern und Jugendlichen unter Antidepressiva. Für Erwachsene kann ein ähnlicher Zusammenhang nicht nachgewiesen werden. Obwohl Studienberichte genauer und aussagekräftiger sind als publizierte Studien, erschweren auch hier inkonsistente oder fehlende Angaben eine saubere Auswertung, was die Studienverantwortlichen selbst an der Gültigkeit ihrer Resultate zweifeln lässt.

Zusammengefasst von Felix Schürch

Die sorgfältige Übersichtsarbeit bestätigt erneut die schon anderweitig belegte Erkenntnis, dass neue Antidepressiva für Erwachsene keinen suizidalen Risikofaktor darstellen dürften; dies im Unterschied zu Kindern und Jugendlichen, bei welchen allerdings auch die antidepressive Wirksamkeit fraglich ist. Vereinzelt ist früher – besonders beim SNRI Venlafaxin – Akathisie als möglicher suizidaler Risikofaktor diskutiert worden. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigten Antidepressiva nicht von Placebo. Der Endpunkt «Suizidalität» ist weit gefasst und umfasst ein Kontinuum von Suizid-Ideen über Suizid-Versuche bis zu vollendeten Suiziden, einschliesslich selbstverletzenden Verhaltens, was nicht ganz unumstritten ist. Denn es ist unklar, welche Faktoren beispielsweise den Übergang von suizidalem Denken zu suizidalem Handeln bedingen. Die Studienverantwortlichen weisen auf die teilweise bescheidene Qualität der einbezogenen Studien hin, besonders wenn sie von Seiten der Pharmaindustrie stammen, und bemerken angesichts der relativen Seltenheit der berücksichtigten Ereignisse kritisch: «... the true risk for serious harms is still uncertain.» Das praktische Dilemma «Behandeln oder nicht behandeln?» stellt sich dennoch nicht, d.h. erwachsene Depressive können und sollen bei korrekter Indikation mit Antidepressiva behandelt werden. Antidepressiva allein wirken aber auch dann nicht suizid-protektiv, letzteres würde allenfalls für Lithium zutreffen.

Peter Zingg

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Suizidrisiko von Antidepressiva mangels Daten unklar ( 2016)