Ximelagatran/Melagatran

Ximelagatran/Melagatran (Exanta®) wird zur Thromboembolie- Prophylaxe bei Hüft- und Kniegelenksersatz empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Das pharmakologisch inaktive Ximelagatran ist die oral verabreichbare Vorstufe von Melagatran, das als kompetitiver Hemmer von Thrombin (Gerinnungsfaktor II) wirkt. Thrombin spielt eine zentrale Rolle bei der Blutgerinnung; insbesondere fördert es die Aktivierung von Fibrinogen zu Fibrin. Neben der Thrombinhemmung bremst Melagatran auch die Thrombozytenaktivierung und -aggregation und trägt zur endogenen Fibrinolyse bei. Infolge der verminderten Thrombinwirkung verlangsamt Melagatran die Blutgerinnung. Dies lässt sich anhand von partieller Thromboplastin-, Prothrombin- und Thrombinzeit zeigen, die allesamt durch Melagatran verlängert werden (wobei keine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht, so dass sich die Tests nicht zur Therapieüberwachung eignen). Die gerinnungshemmende Wirkung von Ximelagatran/Melagatran erreicht innerhalb von 2 Stunden einen Maximalwert und dauert 12 Stunden.1,2

Pharmakokinetik

Ximelagatran wird nach oraler Einnahme durch eine esterasenvermittelte Hydrolyse sowie eine – zytochromunabhängige – Reduktion zum aktiven Melagatran umgewandelt, dessen höchste Konzentration nach etwa 2 bis 2,5 Stunden gemessen wird. Etwa 20% der verabreichten Ximelagatran-Menge werden biologisch verfügbar. Wird Melagatran subkutan injiziert, misst man Plasmaspitzenspiegel nach 20 bis 30 Minuten. Melagatran wird mit einer Halbwertszeit von 3 bis 5 Stunden unverändert renal eliminiert. Bei einer Niereninsuffizienz verzögert sich die Ausscheidung von Melagatran; ferner erhöht sich die biologische Verfügbarkeit von Ximelagatran. Eine mittelgradig eingeschränkte Leberfunktion hat dagegen keinen wesentlichen Einfluss auf die Pharmakokinetik.1-3

Klinische Studien

Am umfassendsten ist Ximelagatran/Melagatran bei der Thromboembolie-Prophylaxe nach orthopädischen Operationen geprüft worden – derjenigen Indikation, wofür das Mittel zugelassen ist. Zu anderen möglichen Einsatzgebieten liegen indessen ebenfalls Resultate von grossen Studien vor.

Thromboembolie-Prophylaxe in der Orthopädie

In mehreren Doppelblindstudien ist Ximelagatran/Melagatran als Thromboembolie-Prophylaxe bei Personen untersucht worden, denen eine Hüft- oder Knieprothese eingesetzt wurde. Als primärer Endpunkt wurde jeweils das Auftreten thromboembolischer Ereignisse (Thrombose der tiefen Beinvenen, Lungenembolien) festgehalten, indem bei allen Teilnehmenden 1 bis 2 Wochen nach der Operation eine Phlebographie und bei Lungenembolie- Verdacht entsprechende Zusatzabklärungen vorgenommen wurden.

Mehrheitlich dienten niedermolekulare Heparine als Vergleichssubstanzen. Ximelagatran/Melagatran wurde 2-mal pro Tag verabreicht, während der ersten 1 bis 3 Tage subkutan als Melagatran und danach oral als Ximelagatran, wobei der Beginn der Melagatran-Verabreichung in den Studien unterschiedlich gehandhabt wurde.

In einer Dosisfindungsstudie erhielten 1477 Personen entweder Dalteparin (Fragmin®, 2-mal 5000 E/Tag s.c.) oder Ximelagatran/ Melagatran in verschiedenen Dosierungen; die erste Gabe von Melagatran erfolgte bei Operationsbeginn. Die Häufigkeit von thromboembolischen Ereignissen betrug bei Dalteparin 28%. Bei Ximalagatran/Melagatran war sie dosisabhängig; mit der Kombination von 1 mg Melagatran/8 mg Ximelagatran erreichte sie 38%, mit der Kombination 1,5 mg/12 mg 24%, mit 2,25 mg/18 mg 24% und mit 3 mg/24 mg 15%. Der Unterschied zwischen Dalteparin und der höchsten Ximelagatran/ Melagatran-Dosis war signifikant.4

In zwei Studien wurde Enoxaparin (Clexane®) in einer Dosierung von 1-mal 40 mg/Tag s.c. (erste Dosis 12 Stunden vor der Operation) zum Vergleich gewählt. In der einen Untersuchung (n=2788) verabreichte man in der Ximelagatran/Melagatran- Gruppe 4 bis 12 Stunden nach der Operation eine Dosis Melagatran zu 3 mg und anschliessend Ximelagatran-Tabletten zu 24 mg. Die Rate der thromboembolischen Ereignisse betrug unter Ximelagatran/Melagatran 31,0%; in 5,7% handelte es sich um folgenschwere Ereignisse (proximale Beinvenenthrombosen und Lungenembolien). Unter Enoxaparin lagen diese Prozentsätze bei 27,3 bzw. 6,2%.5 In der anderen Studie (n=2765) wurde eine erste Melagatran-Dosis von 2 mg kurz vor dem Beginn der Operation injiziert, eine zweite Dosis von 3 mg am Abend des Operationstages; danach wechselte man ebenfalls auf Ximelagatran-Tabletten zu 24 mg. In der Ximelagatran/ Melagatran-Gruppe betrug die Häufigkeit von thromboembolischen Ereignissen 20,3% und diejenige von schwerwiegenden Thromboembolien 2,3%; in der Enoxaparin- Gruppe waren es 26,6 bzw. 6,3%.6

In einem dritten Vergleich (n=1557) wurde Enoxaparin nach einem in Nordamerika verbreiteten Schema dosiert (2-mal täglich 30 mg, Therapiebeginn am Tag nach der Operation); in der anderen Gruppe wurde nur Ximelagatran oral verabreicht (2-mal täglich 24 mg). Hier fiel das Resultat zu Ungunsten von Ximelagatran aus.7

1851 Personen erhielten im Anschluss an eine Knieprothesen- Implantation Ximelagatran (2-mal 24 oder 36 mg/Tag) oder das orale Antikoagulans Warfarin. Mit Ximelagatran liessen sich mehr thromboembolische Ereignisse verhüten als mit Warfarin; ein signifikanter Unterschied fand sich bei der Anzahl der distalen Venenthrombosen, nicht jedoch bei derjenigen der proximalen Venenthrombosen, Lungenembolien und Todesfälle.8 Zudem ist der Vergleich als nicht ganz korrekt anzusehen, weil die gerinnungshemmende Wirkung von Ximelagatran rascher einsetzt als die von Warfarin.

Andere Einsatzgebiete

In zwei Studien erhielten insgesamt rund 7300 Personen, die an einem Vorhofflimmern litten und mindestens einen zusätzlichen Risikofaktor für einen Schlaganfall aufwiesen, Ximelagatran (2-mal 36 mg/Tag) oder Warfarin (Dosierung gemäss INR-Zielwert von 2 bis 3). Als Endpunkt zählte das Auftreten eines Schlaganfalls (ischämisch oder hämorrhagisch) oder einer Embolie im systemischen Kreislauf. Die mittlere Beobachtungszeit lag bei ungefähr 1,5 Jahren. In der ersten Studie, die offen geführt war, betrug die Inzidenz des Endpunktes in der Ximelagatran-Gruppe 1,6% pro Patientenjahr, in der Warfarin- Gruppe 2,3%.9 In der zweiten, doppelblinden Studie war das Resultat umgekehrt, mit einem Wert von 1,6% unter Ximelagatran und von 1,2% unter Warfarin.10

Bei einer Thrombose der tiefen Beinvenen konnten erneute Thrombosen oder Embolien mit einer 6-monatigen Ximelagatran- Behandlung (2-mal 36 mg/Tag) praktisch gleichermassen verhindert werden wie mit Enoxaparin und anschliessendem Warfarin.11

Nach einem Myokardinfarkt liess sich mit einer 6-monatigen Sekundärprophylaxe mit Ximelagatran und Acetylsalicylsäure (Aspirin® u.a.) das Risiko von kardiovaskulären Ereignissen zum Teil signifikant stärker senken als mit Acetylsalicylsäure allein.12

Unerwünschte Wirkungen

Unter Ximelagatran steigt das Blutungsrisiko, wobei Blutungskomplikationen und die Anzahl der benötigten Bluttransfusionen bei den Hüft- oder Knieoperierten etwa gleich häufig waren wie unter niedermolekularen Heparinen oder Warfarin.1 Auch gastrointestinale Beschwerden (Übelkeit, Obstipation), Schwindel, Kopfschmerzen, Fieber und Harnwegsinfekte sind als Nebenwirkungen aufgeführt.

Relativ oft traten Erhöhungen der Leberwerte (Transaminasen, Bilirubin) auf, meistens mit einer Latenz von 1 bis 6 Monaten nach Therapiebeginn. Schwere Leberschäden (Anstieg der ALAT-Aktivität über das 3-fache und des Bilirubinspiegels über das 2-fache des obersten Normwertes) wurden unter einer mehrmonatigen Ximelagatran-Behandlung mit einer Häufigkeit von etwa 0,5% beobachtet; in wenigen Fällen entwickelte sich daraus ein tödliches Leberversagen.

In den Vergleichen mit Warfarin stellte man unter Ximelagatran eine höhere Inzidenz an koronaren Ereignissen fest; die Bedeutung dieser Beobachtung ist noch nicht klar.3

Interaktionen

Die Kombination von Ximelagatran/Melagatran mit anderen gerinnungshemmenden Substanzen erhöht das Blutungsrisiko. Substanzen, die das Transportprotein P-Glykoprotein hemmen (Azol-Antimykotika, Ciclosporin = Sandimmun® u.a., Verapamil = Isoptin® u.a.), können zu erhöhten Melagatran-Spiegeln führen.

Dosierung/Verabreichung/Kosten

Sowohl Melagatran wie Ximelagatran werden unter dem Namen Exanta® angeboten, und zwar als Fertigspritzen zu 3 mg und Filmtabletten zu 24 mg. Das Mittel ist kassenzulässig. Die einzige offizielle Indikation ist die Thromboembolie-Prophylaxe nach einer Hüft- oder Knieprothesen-Implantation, wobei 4 bis 8 Stunden nach der Operation zunächst mit subkutan gespritztem Melagatran begonnen werden soll und ab dem folgenden Tag auf Ximelagatran per os gewechselt werden kann (beides 2-mal/Tag). Als maximale Verabreichungsdauer gelten 11 Tage. Ximelagatran/Melagatran wird ohne Blutgerinnungs- Kontrolle eingesetzt. Treten Blutungen auf bzw. ist eine Überdosierung zu vermuten, soll man auf eine genügende Diurese achten; im Übrigen ist die Therapie symptomatisch, ein spezifisches Antidot existiert nicht. Bei einer Kreatininclearance unter 30 ml/min oder bei Lebererkrankungen mit Transaminasenerhöhung ist Ximelagatran/Melagatran kontraindiziert (Kontrolle der Leberwerte vor Therapiebeginn!). Der Einsatz bei schwangeren und stillenden Frauen sowie bei Kindern ist nicht untersucht worden und deshalb zu vermeiden.

Eine 11-tägige Ximelagatran/Melagatran-Verabreichung kostet knapp 120 Franken. Niedermolekulare Heparine sind je nach Präparat zum Teil ähnlich teuer, zum Teil aber auch deutlich billiger.

Kommentar

Ximelagatran/Melagatran hat offensichtlich eine ungefähr gleich gut thromboseverhütende Wirkung wie niedermolekulare Heparine oder orale Antikoagulantien. Dass es auch oral verabreicht werden kann und die Behandlung ohne spezielle Gerinnungskontrollen stattfinden kann, wirkt umso attraktiver. Doch trotz der reichlich vorhandenen Daten bleiben Fragen ungelöst. Dass in jeder Studie die Ximelagatran/Melagatran- Verabreichung nach einem anderen Schema gestartet wurde und die optimale Variante nicht definiert ist, ist noch als das geringste Problem anzusehen. Gravierender sind die hepatotoxischen Eigenschaften, die dafür verantwortlich sind, dass Ximelagatran/Melagatran in den USA bislang nicht zugelassen wurde und bei uns während höchstens 11 Tagen eingesetzt werden soll. Nun ist es ja gang und gäbe, nach einer Hüft- oder Kniearthroplastik während mehrerer Wochen eine Thromboembolie-Prophylaxe durchzuführen; man müsste also nach dieser Frist jedesmal auf ein niedermolekulares Heparin oder auf eine orale Antikoagulation wechseln – anders gesagt: Ximelagatran/ Melagatran zu verschreiben würde lediglich einen Zwischenschritt bedeuten, der eigentlich wenig plausibel erscheint.

Standpunkte und Meinungen

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Ximelagatran/Melagatran (28. Juli 2005)
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pharma-kritik, 27/No. 1
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