Niedermolekulare Heparine

Übersicht

Die Wirksamkeit von Heparin in der Prophylaxe und Behandlung von Thromboembolien ist gut dokumentiert. Ziel dieses Artikels ist es, den Stellenwert der niedermolekularen Heparine (NMH) mit jenem der unfraktionierten Heparine (UFH) zu vergleichen.

Chemie/Pharmakologie

Das für therapeutische Zwecke verwendete unfraktionierte Heparin wird aus der Darmschleimhaut von Schweinen hergestellt. Es handelt sich um ein polysulfatiertes anionisches Mukopolysaccharid. Die Molekülmasse von UFH schwankt zwischen 3'000 und 30'000 Dalton mit einer mittleren Molekülmasse von 12'000 bis 15'000 Dalton. NMH werden durch verschiedene Verfahren (chemische und enzymatische Depolymerisation) aus unfraktioniertem Heparin gewonnen. Die mittlere Molekülmasse liegt zwischen 4'000 und 6'000 Dalton. Über die in der Schweiz erhältlichen NMH informiert die Tabelle 1.Verantwortlich für die pharmakologische Wirkung ist eine bei allen Heparinen vorkommende Pentasaccharid-Einheit, die zu einer Aktivierung von Antithrombin III führt. Der Antithrombin-III-Heparin-Komplex verbindet sich mit Thrombin und Faktor Xa. UFH haben verglichen mit NMH eine 2- bis 4mal höhere Affinität zu Thrombin. Faktor Xa wird in gleichem Masse von beiden gehemmt. Das heisst, die UFH beinflussen in stärkerem Umfang den letzten Schritt der Gerinnungskaskade (Umwandlung von Fibrinogen in Fibrin) als NMH. Dies wird mitunter als ein Grund für die geringere Blutungstendenz unter NMH angesehen.

Pharmakokinetik

NMH zeichnen sich gegenüber den UFH durch eine bessere Bioverfügbarkeit (bei subkutaner Anwendung), längere Halbwertszeit und eine dosisabhängige Clearance aus. Plasmaspitzenspiegel bezüglich Anti-Faktor-Xa-Aktivität werden nach 2-5 Stunden erreicht. Eine signifikante Anti-Faktor-Xa-Wirksamkeit hält bis zu 12 Stunden an. NMH werden vorwiegend renal ausgeschieden und haben eine durchschnittliche Halbwertszeit von 4,5 Stunden (2-6 Stunden). Heparine sind praktisch nicht plazentagängig.

Klinische Studien

Seit Jahren werden Heparine zur Prophylaxe von tiefen Venenthrombosen (TVT) und der daraus entstehenden, oft lebensgefährlichen Lungenembolie eingesetzt. TVT sind häufig, können stumm verlaufen und werden zum Teil erst retrospektiv nach einer manifesten Lungenembolie oder beim Auftreten des postthrombotischen Syndroms diagnostiziert. Vor allem proximale TVT führen zu Lungenembolien. In der Regel wird die Thromboseprophylaxe mit Heparin einige Stunden präoperativ begonnen und 5-10 Tage lang postoperativ weitergeführt. Ohne Prophylaxe beträgt die Inzidenz einer TVT bei allgemeinchirurgischen Patienten 20 bis 40%. Wird eine perioperative Heparinprophylaxe durchgeführt, so sinkt die TVT-Häufigkeit auf ungefähr 10%.(1) Seit 1982 sind in diversen Studien und Metaanalysen die NMH mit UFH bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit untersucht und verglichen worden. Klinische Studien wurden am häufigsten mit Enoxaparin (Lovenox® u.a.), relativ häufig auch mit Dalteparin (Fragmin® u.a.) und Nadroparin (Fraxiparine®) durchgeführt.

Thromboembolieprophylaxe in der Allgemeinchirurgie

In einer multizentrischen Doppelblindstudie wurden 3'809 Patienten in 2 Gruppen verglichen. Bei allen Patienten wurde ein operativer Eingriff am Abdomen (Viszeralchirurgie, Urologie oder Gynäkologie) vorgenommen; ein Drittel davon waren Krebspatienten. Die eine Gruppe erhielt einmal täglich 2'500 IE Dalteparin subkutan, die andere 2mal täglich 5'000 IE UFH subkutan. Die Prophylaxe wurde 1-4 Stunden präoperativ begonnen und mindestens bis zum 5. postoperativen Tag weitergeführt oder bis der Patient vollständig mobil war. Die Patienten wurden während 4-8 Wochen nachkontrolliert. Der Thrombosenachweis erfolgte mittels Phlebographie. In der perioperativen Periode traten massive Blutungen sowie Wundhämatome in der UFH-Gruppe doppelt so häufig auf wie in der NMH-Gruppe. TVT waren in beiden Gruppen gleich häufig (50% davon waren proximale TVT). Die Gesamtmortalität war in beiden Gruppen ähnlich (3,3% bei NMH und 2,5% bei UFH). Mehr als 80% der Verstorbenen waren wegen eines Krebsleidens operiert worden. Während der folgenden Beobachtungszeit zeigten sich keine Unterschiede, weder in der Anzahl TVT und Lungenembolien noch in der Mortalität. Es ereigneten sich insgesamt 3 tödliche Lungenembolien, 2 in der NMH- und 1 in der UFH-Gruppe. Diese Studie zeigt, dass Dalteparin ebenso wirksam ist wie UFH mit eindeutig weniger massiven Blutungen und Wundhämatomen in der perioperativen Zeit.(2)

Eine neuere multizentrische Doppelblindstudie mit 1'351 Patienten, in der Reviparin (in der Schweiz nicht erhältlich) mit UFH verglichen wurde, zeigte praktisch identische Resultate.(3)

In einer Metaanalyse wurden 23 Studien mit insgesamt 8'172 Patienten ausgewertet. 6'878 Patienten aus 17 Studien unterzogen sich einem allgemeinchirurgischen und 1'294 Patienten aus 6 Studien einem orthopädischen Eingriff. Im folgenden sollen die Resultate von den 17 allgemeinchirurgischen Studien erörtert werden. Verglichen wurden NMH mit UFH. Es wurden nur jene Studien berücksichtigt, in welchen die vom Hersteller empfohlenen Dosierungen der Heparine eingehalten wurden. Gesamthaft (17 Studien) lag die Inzidenz von TVT in der NMH-Gruppe bei 5,3% und war damit signifikant kleiner als in der UFH-Gruppe mit 6,7%. Unter NMH traten 9, unter UFH 20 Lungenembolien auf. Gefährliche Blutungen kamen in beiden Gruppen gleich häufig vor.(4)

Aus der Gesamtzahl der Studien wurden acht Studien herausgenommen, die mindestens 7 von 8 Qualitätskriterien erfüllten. Die Qualitätskriterien umfassten u.a. eine exakte Beschreibung der Ein-und Ausschlusskriterien, des Randomisierungsverfahrens, verschiedener Patientenmerkmale (Alter, Geschlecht, Art der Operation) sowie der Blutungen. Betrachtet man nur die Resultate dieser 8 Studien, so zeigt sich, dass TVT und Lungenembolien bei den Patienten unter UFH nur geringfügig häufiger vorkommen als bei den mit NMH Behandelten, die Blutungstendenz dagegen in der NMH-Gruppe etwas höher ist. Zusammenfassend lässt diese Metaanalyse annehmen, dass sich die Inzidenz von TVT durch die NMH um durchschnittlich 10% senken lässt, dass jedoch dafür ein leicht (nicht-signifikant) erhöhtes Blutungsrisiko in Kauf genommen werden muss.(lit)

Thromboembolieprophylaxe in der Orthopädie

Ohne Prophylaxe beträgt bei grossen orthopädischen Eingriffen die Inzidenz von TVT 40 bis 60%, von proximalen TVT 20 bis 40% und von symptomatischen Lungenembolien ungefähr 5%. In einer randomisierten Studie mit 453 Patienten nach Totalersatz des Kniegelenks wurde die Wirksamkeit von Enoxaparin mit UFH verglichen. Die eine Hälfte erhielt postoperativ Enoxaparin 3'000 IE subkutan alle 12 Stunden, die andere Hälfte UFH 5'000 IE subkutan alle 8 Stunden. Die Anzahl TVT war bei den mit Enoxaparin Behandelten um 10% niedriger. Grössere Blutungen wurden in beiden Gruppen in gleichem Umfang beobachtet. Nur in der UFH-Gruppe traten 2 Lungenembolien auf (wovon 1 tödlich). Enoxaparin verhindert also das Auftreten von TVT und Lungenembolien nach Knietotalprothese zuverlässiger als UFH.(5)

Eine Metaanalyse umfasst 56 randomisierte Studien aus der Zeit von 1966 bis 1993. In diesen Studien wurde die perioperative Thromboseprophylaxe bei total 7'976 Patienten nach einer elektiven Hüfttotalprothesenoperation untersucht. Verglichen wurden NMH, UFH, orale Antikoagulantien, Acetylsalicylsäure, Dextran sowie Stützstrümpfe. Berücksichtigte Endpunkte waren die Inzidenz von TVT, von proximalen TVT und von Lungenembolien. Bezüglich der Häufigkeit von TVT waren die NMH den anderen Therapien überlegen. In der Prophylaxe von proximalen TVT zeigten sich die NMH und die oralen Antikoagulantien als gleichwertig und den anderen Therapien überlegen. Lungenembolien wurden am erfolgreichsten mit NMH oder Stützstrümpfen verhindert. Grössere Blutungen, in jeder Studie wieder etwas anders definiert, traten am häufigsten mit UFH auf, gefolgt von den NMH und den oralen Antikoagulantien.(6) Eine Metaanalyse von Studien zur Thromboseprophylaxe bei Kniegelenkersatz ergab ähnliche Resultate.(lit)

Behandlung von tiefen Venenthrombosen

Die Antikoagulation ist der Hauptpfeiler der Behandlung von TVT und Lungenembolien. Heparin gilt als Mittel der Wahl in der Initialbehandlung. Nach Diagnosestellung wird mit der parenteralen Heparinisierung begonnen, entweder mit UFH (kontinuierlich i.v. oder s.c. alle 12 Stunden) oder mit ein- oder zweimal täglichen subkutanen Injektionen von NMH. Orale Antikoagulantien werden überlappend schon vom 1. oder 2. Tag an eingesetzt. Die Heparinbehandlung wird solange fortgeführt, bis der INR-Wert zwei Tage lang im therapeutischen Bereich zwischen 2 und 3 liegt (durchschnittlich 5-7 Tage). Adjuvante Massnahmen wie Beinhochlagerung dienen vor allem zur Abschwellung. Die Antikoagulation soll das weitere apositionelle Wachstum und die embolische Migration des Thrombus verhüten. Die Behandlung selbst hat keinen Einfluss auf den bestehenden Thrombus, der allmählich durch das aktivierte fibrinolytische System aufgelöst wird. Ziel der Behandlung ist es, die Zahl der akut auftretenden lebensbedrohlichen Lungenembolien zu reduzieren und das postthrombotische Syndrom zu verhindern.

In einer randomisierten Studie mit insgesamt 500 Patienten wurde die Wirksamkeit und Sicherheit von Enoxaparin mit UFH in der Behandlung der proximalen TVT verglichen. Die Thrombose wurde entweder mittels Phlebographie oder Dopplersonographie bestätigt. 253 Patienten erhielten UFH (5'000 IE als Bolus, gefolgt von 20'000 IE/24 Stunden per infusionem), 247 erhielten Enoxaparin (2mal täglich 100 IE/kg subkutan). Am 2. Tag wurde mit der oralen Antikoagulation begonnen. Die Heparintherapie wurde mindestens 5 Tage weitergeführt und gestoppt, wenn der INR-Wert 2 Tage lang im therapeutischen Bereich lag. Die orale Antikoagulation wurde 3 Monate lang verordnet. Ungefähr 50% der mit Enoxaparin Behandelten benötigten keine Hospitalisation und konnten ambulant weiterbetreut werden. Alle Patienten wurden monatlich nachkontrolliert. Bei klinischen Zeichen einer TVT wurde eine Phlebographie oder Dopplersonographie verordnet. Es ergaben sich insgesamt keine signifikanten Unterschiede zwischen Enoxaparin und UFH. Thromboembolische Ereignisse traten in der Enoxaparin-Gruppe bei 13 von 247 Patienten auf (5,3%); davon waren 11 proximale TVT und 2 Lungenembolien. In der UFH-Gruppe ereigneten sich bei 17 von 253 Patienten (6,7%) thromboembolische Komplikationen; davon waren 15 proximale TVT und 2 tödliche Lungenembolien. Unter Enoxaparin traten 5, unter UFH 3 grössere Blutungen auf.(8) Thromboembolische Ereignisse lassen sich somit ebenso wirksam mit Enoxaparin verhindern wie mit UFH. Unter Enoxaparin treten dabei etwas mehr Blutungen auf als unter UFH.

In einer weiteren randomisierten Studie mit 400 Patienten, in der Nadroparin (Fraxiparine®) mit UFH verglichen wurde, sind die Resultate mit denjenigen der oben beschriebenen Studie vergleichbar.(9)
In einer Metaanalyse wurden die Resultate von 16 randomisierten Studien zur initialen Heparinbehandlung von TVT ausgewertet. Bezüglich Rezidive von thromboembolischen Ereignissen, gefährliche Blutungen und Gesamtmortalität waren NMH leicht (nicht-signifikant) besser wirksam als UFH. Eine (phlebographisch dokumentierte) Grössenzunahme des Thrombus war jedoch unter NMH signifikant seltener als unter UFH.(10) Die NMH scheinen in der Therapie der TVT ebenso wirksam und verträglich zu sein wie die UFH . Zudem kann mit NMH eine Hospitalisation verkürzt oder gar vollständig vermieden werden.

Behandlung von Lungenembolien

Tinzaparin (Innohep®) und UFH wurden in einer randomisierten Multizenterstudie verglichen, welche 612 Patienten mit manifesten Lungenembolien (bestätigt durch Szintigraphie oder Pulmonalisangiographie) einschloss. Durchschnittlich wurde während 7 Tagen mit Heparin behandelt. Mit der oralen Antikoagulation wurde am 2. Tag begonnen. Tinzaparin wurde gewichtsadaptiert (175 IE/kg) einmal täglich subkutan verordnet. Die Therapie mit UFH wurde mit einer Bolusinjektion von 50 IE/kg begonnen und anschliessend als Infusion mit 500 IE/kg pro 24 Stunden weitergeführt. Die oralen Antikoagulantien wurden für mindestens 3 Monate gegeben. Kontrollen erfolgten nach 8 und nach 90 Tagen. Thromboserezidive, Lungenembolien und Blutungen waren in der UFH-Gruppe unwesentlich häufiger. Die Mortalität war in der NMH-Gruppe kleiner, jedoch nicht signifikant. In beiden Gruppen traten 3 tödliche Lungenembolien auf. Tinzaparin ist somit in der Behandlung von Lungenembolien ähnlich wirksam wie UFH.(11)

In einer anderen randomisierten Studie war etwa ein Drittel der 1'021 Patienten von einer Lungenembolie betroffen, die übrigen von einer symptomatischen TVT. Reviparin, ein in der Schweiz nicht erhältliches NMH, erwies sich bezüglich Rezidivprophylaxe als ebenso wirksam wie UFH.(lit)

Behandlung der instabilen Angina pectoris und des Nicht-Q-Wellen-Myokardinfarts

In einer Doppelblindstudie bei 1506 Patienten mit instabiler koronarer Herzkrankheit (instabile Angina pectoris oder Nicht-Q-Wellen-Infarkt) wurde Dalteparin mit Placebo verglichen. Dalteparin wurde in den ersten 6 Tagen in einer Dosis von 120 IE/kg (maximal jedoch 10'000 IE) 2mal täglich subkutan gegeben, anschliessend noch für weitere 6 Wochen einmal täglich (7'500 IE). Ausserdem erhielten die Patienten initial 300 mg, später täglich 75 mg Acetylsalicylsäure sowie Betablocker, Kalziumantagonisten und Nitrate nach Bedarf. Nach 6 Tagen war in der Dalteparin-Gruppe die Mortalität sowie die Infarktinzidenz verglichen mit der Placebo-Gruppe eindeutig niedriger. Nicht offensichtlich war der Unterschied bezüglich notwendiger Heparininfusionen sowie Re-vaskularisierungsmassnahmen. Nach 6 Wochen war Dalteparin in allen Endpunkten dem Placebo überlegen. Nach 5 Monaten jedoch waren keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zu verzeichnen.(13)

In einer anderen Studie wurde Dalteparin mit UFH verglichen. In einer ersten Phase erhielten 1482 Patienten mit instabiler Angina pectoris oder Nicht-Q-Wellen-Infarkt entweder Dalteparin 120 IE/kg zweimal täglich subkutan oder UFH (5'000 IE Bolus, dann 1'000 IE/Stunde) während 6 Tagen. In der zweiten Phase, welche doppelblind war, bekamen die Patienten entweder einmal täglich 7'500 IE Dalteparin oder Placebo. Sowohl nach 6 wie nach 45 Tagen waren in den beiden Gruppen keine signifikanten Unterschiede weder in der Anzahl von rezidivierender Angina pectoris, Infarkten noch in der Mortalität festzustellen.(14)

Enoxaparin wurde in einer grossen Doppelblindstudie bei 3'171 Patienten mit instabiler Angina pectoris oder Nicht-Q-Wellen-Infarkt mit UFH verglichen. Eine Gruppe erhielt 2mal täglich 100 IE Enoxaparin subkutan, die andere eine kontinuierliche Infusion von UFH während 2-8 Tagen. Alle erhielten zudem Acetylsalicylsäure. Nach 14 wie nach 30 Tagen waren in der Enoxaparin-Gruppe signifikant weniger Angina-pectoris-Rezidive,MyokardinfarkteundTodesfällezuverzeichnen. Grössere Blutungen traten in beiden Gruppen bei etwa 7% der Behandelten auf. Lediglich Ekchymosen an der Einstichstelle waren häufiger mit Enoxaparin als mit UFH.(15) In der Schweiz ist bisher nur Enoxaparin in Kombination mit Acetylsalicylsäure für die Therapie der instabilen koronaren Herzkrankheit zugelassen.

Behandlung des Schlaganfalles

In der Behandlung von zerebrovaskulären Insulten hat Heparin keinen etablierten Platz. In einer grossen randomisierten Studie bei 19'435 Personen mit einem ischämischen Insult konnte z.B. kein Nutzen von UFH nachgewiesen werden.(16)

Nadroparin wurde in einer Doppelblindstudie bei 312 Patienten mit ischämischem Insult gegen Placebo geprüft. Die Therapie wurde innerhalb von 48 Stunden nach dem Schlaganfall begonnen und während 10 Tagen fortgeführt. Nach 10 Tagen und nach 3 Monaten waren keine signifikanten Unterschiede zwischen den zwei mit verschiedenen Nadroparin-Dosen behandelten Gruppen und der Placebo-Gruppe zu verzeichnen. Nach 3 Monaten waren 42 Patienten (14%) gestorben, 12 in der höher dosierten Nadroparin-Gruppe, je 15 in der niedriger dosierten Nadroparin- und der Placebo-Gruppe. Bei der Nachkontrolle nach 6 Monaten war das Resultat bezüglich Mortalität und Hilfsbedürftigkeit bei der Gruppe, die mit der höheren Nadroparindosis behandelt wurde, signifikant besser als bei den anderen.(17) Die Diskrepanz zwischen den Resultaten nach 3 und nach 6 Monaten ist schwierig zu erklären.




Unerwünschte Wirkungen

Heparininduzierte Thrombozytopenie

Eine Doppelblindstudie mit 665 Patienten zeigte, dass eine in den ersten 2-3 Tagen auftretende Thrombozytopenie (Heparininduzierte Thrombozytopenie Typ I = HIT I) in 30% der Fälle, gleich häufig mit Enoxaparin wie mit UFH, vorkommt. Verantwortlich ist die plättchenaggregierende Eigenschaft von Heparin, welche zu einer Verbrauchskoagulopathie führt, wobei die Anzahl der Plättchen kaum je unter 100'000/mm3 sinkt.

Viel gefährlicher ist die durch IgG-Antikörper verursachte Verminderung der Plättchenzahl (HIT II) auf weniger als 50'000/mm3. Diese tritt in der Regel 5-10 Tage nach Therapiebeginn auf und wurde in dieser Studie bei 3% mit UFH und in keinem Fall mit NMH beobachtet. In 90% liegt eine Kreuzreaktion zwischen NMH und UFH vor. Diese Thrombozytopenie ist zwar reversibel, kann jedoch bei 4 von 1000 Behandelten zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen (Nekrose der Extremitäten infolge disseminierter intravasaler Gerinnung, kardiale und zerebrale Infarkte). Eine Kontrolle der Thrombozytenzahl ist nach längerer Anwendung von Heparinen (mehr als 5-10 Tage) angezeigt.(18) Bei HIT II kommen Lepirudin (Refludan®), ein rekombinantes Hirudin, oder Danaparoid (bisher in der Schweiz nicht erhältlich) als wirksame Alternativen in Betracht.

Osteoporose

Langzeitanwendung von Heparin, wie sie zum Beispiel bei Schwangeren vorkommt, ist mit einem erhöhten Osteoporoserisiko und damit vermehrten Frakturen assoziiert. Die Inzidenz von Wirbelfrakturen bei mit UFH behandelten Schwangeren betrug in einer Studie 2,2%.(19) Bis heute finden sich keine Studien, welche diesbezüglich einen klaren Vorteil von NMH gegenüber den UFH aufzeigen.







Schlussfolgerungen

Die Hauptvorteile der NMH sind ihre verbesserte Bioverfügbarkeit und längere Halbwertszeit, welche es erlauben, Laborkontrollen zu vermeiden und die Behandlung mit einer subkutanen Injektion einmal täglich durchzuführen. Diese Vereinfachung eröffnet auch die Möglichkeit der ambulanten Behandlung von TVT. NMH haben zudem den Vorteil eines geringeren Risikos einer heparininduzierten Thrombozytopenie (Typ II). Eine Verkürzung der Hospitalisationszeit bzw. eine ambulante Behandlung führen zu reduzierten Kosten. Die Ergebnisse der beschriebenen Studien erlauben es, die NMH in der Prophylaxe wie auch in der Behandlung von TVT und Lungenembolien als echte Alternative den UFH gegenüberzustellen. Viele Fachleute vertreten heute die Meinung, dass die NMH die UFH allmählich nicht nur in der Prophylaxe, sondern auch in der Therapie von TVT und Lungenembolien ersetzen werden. Was die Anwendung von NMH bei instabiler koronarer Herzkrankheit betrifft, sollten die heute vorliegenden Daten durch weitere, gross angelegte Studien ergänzt werden, damit die langfristigen Auswirkungen auf harte Endpunkte wie Infarktinzidenz und Mortalität gesichert werden können. Ungeklärt ist die Frage, ob sich die mit einzelnen NMH gewonnenen Resultate auf andere NMH übertragen lassen.

Kommentar

Was die Therapie der TVT betrifft, so sind die NMH nicht «eine echte Alternative», sondern sie haben das UFH eigentlich ersetzt. An den Zentren mit grosser Erfahrung werden mehr als 80% der Patienten zuhause bzw. ambulant mit NMH behandelt. Dies kommt etwa dreimal billiger, führt zu einer schnelleren Rehabilitation und wird von den Patienten bevorzugt. Die ambulante Behandlung erfordert allerdings das Angebot einer spezialisierten Dienstleistung, welche auch die individualisierte Kompressionstherapie umfasst.

W. Blättler

Literatur

  1. 1) Colditz GA et al. Lancet 1986; 2: 143-6
  2. 2) Kakkar VV et al. Lancet 1993; 341: 259-65
  3. 3) Kakkar VV et al. World J Surg 1997; 21: 2-8
  4. 4) Nurmohamed MT et al. Lancet 1992; 340: 152-6
  5. 5) Colwell CW et al. Clin Orthop 1995; (321): 19-27
  6. 6) Imperiale TF, Speroff T. JAMA 1994; 271: 1780-5
  7. 7) Howard AW, Aaron SD. Thromb Haemost 1998; 79: 902-6
  8. 8) Levine M et al. N Engl J Med 1996; 334: 677-81
  9. 9) Koopman MMW et al. N Engl J Med 1996; 334: 682-7
  10. 10) Leizorovicz A et al. Br Med J 1994; 309: 299-304
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  17. 17) Kay R et al. N Engl J Med 1995; 333: 1588-93
  18. 18) Warkentin TE et al. N Engl J Med 1995; 332: 1330-5
  19. 19) Dahlman TC et al. Am J Obstet Gynaecol 1993; 168: 1265-70

Standpunkte und Meinungen

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Niedermolekulare Heparine (28. Dezember 1998)
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