Unerfüllte Wünsche

ceterum censeo

Vor rund neun Jahren habe ich in dieser Zeitschrift einen «Wunschzettel» zuhanden der pharmazeutischen Industrie veröffentlicht.(1)
Ich schrieb damals, es sei mir bewusst, dass der Wunschzettel keine unmittelbaren Folgen haben würde. Dennoch sei es unerlässlich, immer wieder auf Mängel oder Probleme hinzuweisen. Es erscheint mir sinnvoll, jetzt einmal zu überprüfen, was sich geändert hat, wo sich etwas gebessert hat und welche Probleme allenfalls hinzugekommen sind.

Studien und Studienresultate

Ich vertrete nach wie vor die Meinung, dass zu Medikamenten, die normal ärztlich verordnet oder rezeptfrei in der Apotheke bezogen werden können, sämtliche Studienresultate öffentlich verfügbar sein sollten. Wie vor einigen Wochen beschrieben, hat sich hinsichtlich Transparenz doch etwas gebessert - sowohl die amerikanischen als auch die europäischen Arzneimittelbehörden veröffentlichen einen Teil der Unterlagen, die für die Zulassung massgeblich waren, im Internet.(2)

Die Freude über diesen Fortschritt wird allerdings insofern getrübt, als diese Daten unvollständig sind und insbesondere zu spät publiziert werden. So fehlen uns wichtige Resultate gerade dann, wenn wir sie am nötigsten brauchen: während der Zeit der Einführung neuer Medikamente, die von intensiven Werbebemühungen begleitet ist.

Noch vor wenigen Jahren konnte zum Zeitpunkt der Markteinführung damit gerechnet werden, dass einige repräsentative Studien bereits regulär in Fachzeitschriften veröffentlicht waren. Heute haben sich die Arzneimittelbehörden und die Pharmaindustrie auf ein System der schnellen Schiene («Fast Track») geeinigt.

Nach diesem Verfahren werden neue Substanzen, die einen wesentlichen Fortschritt bringen sollen, sehr viel rascher offiziell zugelassen. Das mag im Zusammenhang mit AIDS oft ein sinnvolles Verfahren sein. In den meisten anderen Fällen muss man sich fragen, ob damit tatsächlich den Interessen kranker Menschen gedient ist.

Tatsache ist jedenfalls, dass für im Fast-Track-Verfahren zugelassene Medikamente initial vorwiegend Daten zur Verfügung stehen, die den Herstellerfirmen vorteilhaft erscheinen oder deren Publikation allenfalls von den Arzneimittelbehörden vorgeschrieben wurde. Dies hat zur Folge, dass es äusserst schwierig ist, sich eine von Industrie und Behörden unabhängige Meinung zu bilden. Dabei wären mindestens die Daten, die zur Zulassung vorgelegt wurden, durchaus verfügbar.

In diesem Zusammenhang ist es lehrreich, die Basisinformation anzusehen, die den Ärzten zu den zwei sogenannten COX-2-Hemmern - Celecoxib (Celebrex®) und Rofecoxib (Vioxx®) - in verschiedenen Ländern zur Verfügung steht. Zu Rofecoxib z.B. wird in der Schweiz ausgeführt, «... Geschwüre und Perforationen, Ulcera und Blutungen ... im oberen Magen-Darm-Trakt bei Arthrose-Patienten» könnten wohl unter Vioxx oder Placebo auftreten, die «... Behandlung mit Vioxx ist jedoch mit einem niedrigeren Risiko verbunden als eine Behandlung mit nichtselektiven Cyclooxygenase-Hemmern». Dem gegenüber spricht die offizielle Information in den USA Klartext, indem sie betont, es sei unklar, ob die unter anderen nicht-steroidalen Entzündungshemmern beobachteten Magen-Darm-Probleme in vergleichbarer Häufigkeit auch unter Rofecoxib aufträten, da die in den Studien untersuchten Personen speziell selektiert wurden und da noch keine Langzeitvergleiche vorlägen. In den USA enthält die Basisinformation zudem weitere, viel deutlichere Hinweise auf die gastrointestinale Toxizität (Beispiel: «should be prescribed with extreme caution in patients with a prior history of ulcer disease»), die in der Schweiz fehlen. Dies alles ist besonders deshalb bedenklich, weil die COX-2-Hemmer in der Werbung als Substanzen «mit herausragendem Verträglichkeitsprofil» bezeichnet werden.

Mit anderen Worten: die COX-2-spezifischen Zyklooxygenasehemmer sind möglicherweise wirklich so gut verträglich, wie es uns die entsprechenden Firmen sagen - sicher ist es noch keineswegs. Das ist genau die Situation, in der wir Zugang zu den ausführlichen Studienresultaten benötigen. Nur sind diese leider noch nicht veröffentlicht, weder in medizinischen Zeitschriften noch von Seiten der Behörden. Da die schweizerische Arzneimittelbehörde (IKS) jetzt auch eine Internetsite hat, appelliere ich an sie, nach der Zulassung die ihr zur Verfügung stehenden Daten jeweils so rasch wie möglich im Internet zu veröffentlichen.

Werbung und Ethik

Seit ich in meinem früheren Editorial den Mangel an aussagekräftiger Verschreibungsinformation in Pharma-Inseraten beklagte,(1) haben sich die ärztlichen Sorgen vervielfacht. Heute sind wir nicht nur mit dem Problem nichtssagender Inserate konfrontiert, sondern müssen uns häufig mit den Fragen unserer Patientinnen und Patienten auseinandersetzen, die dank Zeitung und Fernsehen quasi mehr wissen als wir.

Es ist heute durchaus üblich, dass das allgemeine Publikum schon Monate vor der Einführung eines neuen Arzneimittels sehr deutlich darauf aufmerksam gemacht wird, welch grossartige Sensation nächstens erhältlich sein werde. Dass die Fachleute in Praxis und Apotheke selbst zur Zeit der Einführung nur sehr wenig über das neue Mittel wissen können (siehe oben!), ist aus der Sicht der Marketingspezialisten belanglos. Vor oder unmittelbar nach der Einführung der ersten beiden COX-2-Hemmer wurde in der Schweiz das allgemeine Publikum bereits via Fernsehen darüber aufgeklärt, dass nun Arzneimittel zur Verfügung stünden, die als «... Superaspirine nur die schlechten Funktionen der Zyklooygenase hemmen, die guten aber unbehelligt lassen».(3)

Sehr ähnlich wurde bei der Einführung von Mibefradil (Posicor®), Sildenafil (Viagra®), Orlistat (Xenical®), Finasterid zur Alopeziebehandlung (Propecia®) und weiteren Substanzen verfahren.

Das Rezept ist einfach: es wird versucht, möglichst viele betroffene (oder vermeintlich betroffene) Personen zu erreichen, damit diese dann Druck ausüben, das neue Arzneimittel ärztlich verschrieben zu bekommen. Es scheint fast, als ob erreicht werden sollte, dass jede und jeder Arzneimittel «frei» konsumieren kann. Dieser Zustand ist weniger weit entfernt, als wir denken: via Internet ist es z.B. ohne weiteres möglich, einen COX-2-Hemmer, Sildenafil oder Orlistat einzukaufen.

Ob die wünschenswerte Rückkehr zu einem Zustand, in dem die Information der Fachleute Priorität hat, verwirklicht werden kann, ist unter den heutigen Umständen fraglich. Ob es aber so noch richtig ist, von einer «ethischen» Industrie zu sprechen, ist noch viel fraglicher.

Fragwürdige Verfalldaten

«Darf nur bis zu dem auf dem Behälter mit «EXP» bezeichneten Datum verwendet werden.» Wir haben uns nun seit Jahren an die Verfalldaten von Medikamenten gewöhnt und wohl kaum je hinterfragt. Ich gestehe, dass es mir auch weitgehend schleierhaft ist, wie die Verfallfrist im einzelnen festgelegt wird.

Ein Blick auf die Hausapotheke unserer Familie offenbart mir rasch, dass sich dort mehrere (zum Teil noch kaum angebrauchte) Arzneimittelpackungen mit schon seit längerer Zeit abgelaufenem Verfalldatum finden. In den meisten Fällen würde ich - bei entsprechender Indikation - keinen Augenblick zögern, die «unbrauchbaren» Tabletten selbst zu schlucken. Die in Blisterverpackungen ruhenden Tabletten befinden sich in tadellosem Zustand.

Natürlich ist mir bewusst, dass es Arzneimittelformen gibt, deren Aktivität nach einer gewissen Zeit abnimmt. Ebenso ist mir klar, dass der Inhalt angebrauchter Arzneimittelflaschen oder -fläschchen unter Umständen schon nach wenigen Wochen nicht mehr einwandfrei ist. Dagegen sind mir nur ganz wenige Substanzen bekannt, deren Toxizität infolge längerer Aufbewahrung zunehmen kann - Tetracyclin (Achromycin® u.a.) ist ein bekanntes Beispiel.

So kann man sich wirklich fragen, was die Verfalldaten in ihrer heutigen Form nützen. Ist es nicht ein bisschen lächerlich, dass Arzneimittel bis zum Verfalldatum zwar verkauft werden dürfen, vom Verfalldatum an jedoch nicht mehr verwendet werden sollten? Meiner Meinung nach benötigen wir wesentlich differenziertere Angaben. Was der Lebensmittelindustrie recht ist, sollte der Pharmaindustrie billig sein. Mit anderen Worten: neben einem letzten Verkaufsdatum sollte auch eine vernünftige Frist genannt werden, in der das Medikament - normale Aufbewahrung vorausgesetzt - noch verwendet werden kann. Dass Arzneimittel durch inadäquate Aufbewahrung (an der Sonne, an der Hitze usw.) beschädigt werden, ist wohl allen klar und steht nicht in direktem Zusammenhang mit einem Verfalldatum bei vernünftiger Aufbewahrung. Sinnvoll wäre auch die Angabe, ob nach dem Verfalldatum lediglich mit einem teilweisen Verlust der Wirkung oder tatsächlich mit vermehrten unerwünschten Wirkungen zu rechnen ist. Nützlich wäre ferner, wenn für heikle Arzneimittelformen konsequent genauere Angaben mitgeliefert würden (z.B. «im Kühlschrank bis zu 2 Jahren haltbar» oder «angebrochene Flasche längstens 3 Monate einwandfrei»).

Alle Angaben, die den Patientinnen und Patienten erlauben würden, Nutzen und allfällige Gefahren in einen zeitlichen Rahmen zu stellen, wären sinnvoll. Vielleicht würden genauere Angaben auch dazu beitragen, die Arzneimittelmenge, die entsorgt werden muss, etwas zu reduzieren.

Auch diesmal weiss ich, dass meine Anliegen zwar gehört und weitgehend auch verstanden, dass sie aber kaum von Taten gefolgt sein werden. Ob es nicht doch nützlich wäre, wenn den Arzneimittelbehörden - weltweit und in der Schweiz - wieder mehr Zähne wachsen würden?

Literatur

  1. 1) pharma-kritik 1989; 11: 93-4
  2. 2) pharma-kritik 1998; 20: 43-4
  3. 3) http://www.sfdrs.ch/sendungen/puls/infoservice/990415_2.html

Standpunkte und Meinungen

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Unerfüllte Wünsche (9. Juli 1999)
Copyright © 2024 Infomed-Verlags-AG
pharma-kritik, 20/No. 20
PK403
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