Modern Times
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 17
, Nummer 24, PK457
Redaktionsschluss: 7. August 1996 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Im Zeitraum von rund einem Jahrhundert haben sich die beruflichen Aktivitäten der Apothekerinnen und Apotheker radikal verändert. Die Pharmaindustrie hat den «Fachleuten des Arzneimittels» nach und nach eine ihrer zentralen Aufgaben, nämlich die Herstellung von Medikamenten, abgenommen. Noch gibt es einzelne Männer und Frauen, die sich hauptamtlich dieser Aufgabe widmen. Sie arbeiten aber entweder für die Industrie oder für Apotheken-Grossbetriebe mit eigener «Produktion». Die grosse Mehrzahl von Apothekerinnen und Apothekern erfüllt heute andere Aufgaben, die sich mehr schlecht als recht unter den Titeln «Distribution» und «Beratung» zusammenfassen lassen. Dass sie bisher für diese Aufgaben nicht ideal vorbereitet worden sind, wird kaum bestritten. Dagegen herrscht wenig Einigkeit darüber, wie der unbefriedigende Zustand am besten behoben werden könnte. Unklar ist auch, wie sich die imminenten Einschränkungen der Gesundheitskosten auf die Apotheken auswirken werden.
Im Jahr 1996 haben zwei der grossen Schweizer Pharmafirmen beschlossen, sich zusammenzuschliessen. Novartis heisst das neue Gebilde, das aus «Ciba» und «Sandoz» entsteht. Welche Machtgebärde, auf zwei so traditionsreiche und angesehene Namen zu verzichten! Ob die beiden alten Namen - zusammen mit einigen anderen wie Geigy und Wander - wirklich ganz verschwinden, darf wohl noch bezweifelt werden. Is big beautiful? Oder: wem nutzt diese Fusion tatsächlich? Nach dem Urteil verschiedener unabhängiger Experten war weder die eine noch die andere Firma in finanziellen Schwierigkeiten. War es also wirklich notwendig, dass auch hier, wie in anderen Bereichen, ein Koloss entstehen musste, der sich primär an Aktionärsinteressen orientiert? Wie lange lässt sich wohl das antisoziale Credo, mit weniger Mitarbeitern mehr Geld zu machen, noch aufrechterhalten? Auf alle Fälle ist vorläufig nicht abzusehen, wie sich die Fusion einmal auch zum Vorteil kranker Menschen auswirken sollte.
In den USA sind neuerdings immer mehr Leute nach sogenannten «Managed Care»-Prinzipien versichert. «Managed Care» wird sehr unterschiedlich definiert. Hier die Definition der American Medical Association: Unter «Managed Care» sind Verfahren zu verstehen, die von den Versicherungen dafür eingesetzt werden, die ihrer Meinung nach geeignete Mischung von medizinischen und sozialen Dienstleistungen zu den niedrigsten Kosten zu vermitteln. Über 100 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner sind Mitglieder von «Managed Care»-Versicherungen. Diese decken in der Regel die medizinische Versorgung in «Health Maintenance Organisations» (HMO) oder in «Preferred Provider Organisations» (PPO). Diese Versicherungsart, die auch in der Schweiz Fuss fasst, hat Licht- und Schattenseiten. An sich ist es durchaus wünschenswert, dass man sich darum bemüht, unnötige oder sinnlose Interventionen zu vermeiden. In «Managed Care»-Systemen besteht aber auch das Risiko, dass zwar die Interessen von Versicherungen und Ärzten gut berücksichtigt werden, das Wohl des kranken Individuums aber in den Hintergrund gedrängt wird. Wenn Ärzte mittels Geldbussen bestraft werden, wenn sie häufig teure Untersuchungen oder Therapien verordnen, so werden sie im ungünstigen Fall auch dann auf Interventionen verzichten, wenn diese klar indiziert wären.
Aus dem überaus reichhaltigen Katalog von Fakten, die uns am Ende des 20. Jahrhunderts verunsichern, habe ich drei herausgegriffen, die in der einen oder anderen Weise mit den Medikamenten zu tun haben. Natürlich wäre es falsch, die positiven Seiten von Globalisierung, Industrialisierung, Liberalisierung zu ignorieren. Dies ist auch anhand der drei hier genannten Beispiele sichtbar: Medikamente, die gemäss einheitlichen Standards industriell hergestellt werden, sind zuverlässiger als die «Einzelanfertigungen» aus einer kleinen Offizin. Eine grosse Firma wie die Novartis ist besser vorbereitet auf zukünftige, von kleiner werdenden Gesundheitsbudgets erzwungenen Restriktionen und zugleich resistenter gegen eine «feindselige» Übernahme durch noch Grössere. Und ein sorgfältig durchdachtes «Managed Care»-System, das auf einen echten Langzeitnutzen ausgerichtet wäre, brächte gesamthaft auch den Versicherten mehr als unser heutiges, oft von Zufälligkeiten geprägtes System.
Dennoch bleiben schwere Bedenken. Es kann niemandem gleichgültig sein, dass der Apothekerstand in eine ernsthafte Krise schlittern könnte. Es ist auch nicht belanglos, dass die Industrie auch dann qualifizierte Leute entlässt, wenn dafür keine unbedingte Notwendigkeit besteht. Ein solches Verhalten mag kurzfristig mehr Geld bringen, ist aber wegen der menschlichen Konsequenzen langfristig wohl ein Verlustgeschäft. Was «Managed Care» anbelangt, ist zu bedenken, was wir uns im Krankheitsfall denn selbst wünschen würden: Sicher würden wir es vorziehen, dass Ärzte und nicht Manager über die Notwendigkeit von diagnostischen und therapeutischen Interventionen entscheiden.
In allen diesen Situationen geht es primär um einzelne Menschen, deren Beruf oder Stelle gefährdet erscheint oder die krank sind. Die Entwicklungen der letzten Jahre scheinen aber in eine Richtung zu weisen, die den weniger begüterten, den schwächeren und den kranken Menschen nicht zugänglich ist. Ich meine, es wäre an der Zeit, dass wir uns wieder auf «altmodische» ethische Prinzipien besinnen würden. Für die Situation der Apothekerinnen und der Apotheker wird sich eher eine Lösung finden lassen, wenn Ärztinnen und Ärzte versuchen, Konkurrenzdenken aufzugeben und Hand zu konstruktiven Entwicklungen zu bieten. Das «Managerdenken» bei Pharmaindustrie und Krankenversicherungen in Ehren - das Primat gebührt aber einer Haltung, die nicht das Geld, sondern den Menschen im Zentrum sieht. Wer mit Gesundheit und Krankheit anderer Menschen sein Geld verdient, darf sich ganz einfach nicht so benehmen, als ob er oder sie Fernsehapparate, Limonade oder Teppiche verkaufen würde. Die nächsten Jahre werden uns im Gesundheitsbereich noch einige Probleme bringen. Wir werden diese Probleme nur befriedigend lösen können, wenn wir sie miteinander und nicht gegeneinander anpacken und dabei immer auch die Interessen der Schwachen berücksichtigen.
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