pharma-kritik
Evidenz und Interpretation
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 35
, Nummer 12, PK923
Redaktionsschluss: 26. Februar 2014
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2013.923 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Gemäss einer neuen amerikanischen Leitlinie (erarbeitet von einem «Joint National Committee», sogen. JNC8) genügt es, bei Leuten über 60 den Blutdruck auf Werte unter 150/90 mm Hg zu senken – die frühere Empfehlung, auch bei älteren Menschen einen Blutdruck unter 140/90 mm Hg anzustreben, ist fallengelassen worden. Die Leitlinie wird als «Evidenz-basiert» bezeichnet, jedoch nicht von offiziellen Stellen – wie dem «National Heart, Lung, and Blood Institute» – mitgetragen.(1)
Etwas später wurde eine andere Leitlinie, nämlich diejenige der «American Society of Hypertension» und der «International Society of Hypertension» veröffentlicht, in der empfohlen wird, nicht vor dem Alter von 80 Jahren auf eine intensivere Blutdrucksenkung zu verzichten.(2) (Auch die europäischen Leitlinien, die ebenfalls 2013 veröffentlicht wurden, setzen die Altersgrenze bei 80.)
Die beiden amerikanischen Leitlinien weichen noch in anderen Punkten voneinander ab, insbesondere in der Wahl der initial einzusetzenden Medikamente. So sieht die eine Leitlinie viele valable Varianten für die initiale Pharmakotherapie (Thiazid, Kalziumantagonist, ACE-Hemmer, Angiotensin-Rezeptorantagonist),(1) während die andere bei «nicht-schwarzen» Personen unter 60 nur gerade ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptorantagonisten als Primärtherapie empfiehlt.(2) (Bei Schwarzen sind sich die beiden Leitlinien einig: initial kommt ein Thiazid oder ein Kalziumantagonist in Frage.)
Die Begründung der JNC8-Autoren, weshalb Personen über 60 eine weniger «rigorose» Blutdrucksenkung benötigten, soll auf dem Fehlen von eindeutigen Nachweisen eines (zusätzlichen) Nutzens im Alter beruhen. Interessanterweise ist aber offenbar auch bei jüngeren Leuten der Nutzen einer Senkung des systolischen Blutdrucks auf weniger als 140 mm Hg nicht genügend nachgewiesen.(3)
Im Vergleich mit den beiden neuen amerikanischen Leitlinien, die offensichtlich eine möglichst einfache Basis der Hypertoniebehandlung darstellen wollen, ist das entsprechende europäische Dokument wesentlich differenzierter und deshalb auch viel länger und komplexer.(4) Ein offensichtlicher Vorteil der europäischen Leitlinie ist z.B. die detaillierte Beschreibung der Blutdruck-Diagnostik (Heimmessung? 24-Stunden-Messung?) und die Berücksichtigung von anderen Risikofaktoren. Als nachteilig muss die fast prohibitive Länge des Dokumentes (über 70 Seiten) bezeichnet werden.
Allen aktuellen Leitlinien ist gemeinsam, dass sie – zumindestens für gewisse Personengruppen – Empfehlungen formulieren, die nicht auf «bester» Evidenz beruhen. Daraus ergeben sich dann teilweise Unterschiede in den Empfehlungen.
Was können wir in der Praxis daraus ableiten? Zunächst ist bemerkenswert, dass auch für ein so alltägliches Problem wie die arterielle Hypertonie noch bedeutsame Evidenz-Lücken bestehen. Diese Lücken liessen sich nur mit weiteren grossen Studien füllen, beispielsweise solchen, in denen spezifisch Informationen zu bestimmten Altersgruppen gesucht werden. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass nächstens solche Studien – genügend gross und aussagekräftig – durchgeführt werden. Anderseits muss man wohl anerkennen, dass die Frage, ob der Blutdruck wirklich bei allen Leuten auf einen Höchstwert von 140/90 mm Hg (statt 150/90 mm Hg) gesenkt werden muss, gegenüber anderen Problemen der Blutdruckbehandlung wenig Bedeutung hat. Wirklich wichtig ist ja wohl, dass man sich überhaupt um den Blutdruck kümmert – was leider in vielen Teilen der Welt vernachlässigt wird. In dieser Hinsicht ist das Defizit in unseren Breitengraden glücklicherweise gering. So darf man wohl annehmen, dass bei uns Personen mit erhöhtem Blutdruck in der Regel nicht nach einer «Schema F»-Leitlinie, sondern unter Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände (Risikofaktoren, Alter usw.) behandelt werden.
Das Beispiel «Hypertonie» erinnert daran, dass wir die verfügbare Evidenz nicht mit der naturwissenschaftlichen Wahrheit gleichsetzen können. Was uns zur Verfügung steht, ist eine – oft sehr dürftige – Annäherung an die Wahrheit. Ich denke, dass wir uns viel zu wenig bewusst sind, wieviele Annahmen und Interpretationen in «Evidenz-basierten» Aussagen stecken. Nur schon die einfache Feststellung, es bestehe ein signifikanter Unterschied z.B. zwischen zwei Behandlungsvarianten, beruht auf der – unbewiesenen – Annahme, dass ein Unterschied in der Grössenordnung von p<0,5 bedeutsam sei. Tatsächlich ist ein solcher Unterschied im klinischen Kontext öfter nicht wirklich von Belang – weshalb wir dann auch zwischen statistischer Signifikanz und klinischer Relevanz zu unterscheiden versuchen (wobei die klinische Relevanz allerdings auch nicht sehr eindeutig definierbar ist).
Im Zusammenhang mit systematischen Übersichten und Meta-Analysen spielt sodann eine grosse Rolle, nach welchen Kriterien die Studien ausgewählt werden, die die Basis der Übersicht darstellen. Je nach klinischer Problematik lassen sich ja durchaus valable Gründe für die eine oder andere Auswahl formulieren – dem Ermessen der Forschenden ist deshalb oft viel Raum gegeben. Schliesslich lassen sich auch die Resultate einer solchen umfassenden Analyse recht unterschiedlich interpretieren. Dies trifft nicht nur für systematische Übersichten zu, sondern erst recht für Leitlinien. Ich zweifle zwar nicht, dass es eine naturwissenschaftliche Wahrheit gibt, so gut 2x2 4 ergibt. Ich halte es aber für wesentlich, die in einer Meta-Analyse bewusst oder unbewusst verwendeten Annahmen zu bedenken und die Resultate nicht einfach für bare Münze zu nehmen.
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Evidenz und Interpretation (26. Februar 2014)
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